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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Ohren und hören und sehen Sie nicht, was geschieht! Das ist am besten für alte Weiber –«
    »Herr Gerholdt!«
    »In den Wagen!« brüllte Gerholdt.
    Widerspruchslos fügte sich Frau v. Knörringen. Gerholdt legte beide Hände um den knochigen Kopf des Pferdes und sah ihm in die großen, traurigen Augen, in deren Winkeln kleine Eiskristalle wie gefrorene Tränen glitzerten. Er streichelte die gefrorenen Nüstern und strich über die gespitzten Ohren.
    »Das war alles nur ein Spaziergang, mein Lieber«, sagte er leise zu dem Pferd und drückte den Kopf an sich. »Heute nacht mußt du um unser Leben laufen … hörst du. Heute nacht mußt du stärker sein als stark, schneller als schnell und mutiger als mutig. Allein nur du kannst uns noch retten. Deine Beine, deine Lunge … du darfst nicht eher zusammenbrechen, als bis wir am Meer sind. Hörst du, mein Freund?« Er streichelte den schmalen Kopf und rieb seine Wange an dem harten, struppigen Fell zwischen den traurigen Augen. »Wenn wir das Meer erreichen, werden wir uns nie wieder trennen. Ich nehme dich mit, wohin es dann auch geht! Und Ruhe sollst du dann haben … viel, viel Ruhe … Auf den Wiesen am Rhein, in einem eigenen, schönen Stall mit dem besten Hafer … Du wirst das geliebteste Pferd der Welt sein, wenn du Rita rettest! Hörst du … du mußt es schaffen. Nur noch diese Nacht – dann liegt das ganze Leben wieder vor uns …«
    Das Pferd hielt den Kopf gesenkt. Seine Augen blickten über die Schneeweite des Landes, deren weißer Schimmer die Nacht fahl werden ließ. Neben ihm zuckte es über den Himmel und hörte man deutlich das Knattern der Maschinengewehre, das fauchende Abschießen der Raketen von den fahrbaren Lafetten der Stalinorgeln.
    Sie standen inmitten der Schlacht und doch allein. Sie standen dicht neben den mahlenden Mühlsteinen, zwischen denen eine Nation verschrottet wurde …
    Frank Gerholdt kletterte auf seinen Kutschbock. Er nahm die Maschinenpistole, lud sie durch, entsicherte sie und hing sie sich am Riemen um den Hals. Die beiden gefüllten Reservemagazine legte er neben sich.
    »Fertig?« fragte er zu dem Pferd hin.
    Er zog die Zügel an und ließ sie dann wieder locker durch die Finger gleiten. Das Pferd zog an und schwankte die Dorfstraße hinab nach Norden. Der Spur vieler Wagen nach, die vor Tagen in die gleiche Richtung geflüchtet waren … dem Meer zu, der einzigen offenen Straße in das Weiterleben.
    Sie fuhren drei Stunden.
    Morgens um einhalbzwei Uhr hörten sie fernes Pferdegetrappel, das schnell näher kam. Der Gaul spitzte die Ohren … ein Zittern durchlief ihn. Er spürte die Gefahr und wieherte heiser. Seine Beine schnellten nach vorn … der Wagen rumpelte und schwankte über den rissigen Boden. Schneller, immer schneller … eine Höllenjagd, eine keuchende Flucht vor dem Tod …
    Die Pferde kamen näher. Vier Reiter zeichneten sich gegen den Nachthimmel ab. Russische Kavallerie … Tataren auf kleinen, struppigen, schnellen Pferden, die unter dem Wind liefen und deren Beine kaum den Boden berührten.
    Eine Patrouille, die auskundschaften sollte, ob die zweite Straße seitlich der Front von deutschen Truppen benutzt wurde.
    Frank Gerholdt wandte sich um und sah die vier Reiter wie Windsbräute auf sich zukommen. Langsam hob er die Maschinenpistole empor, streifte den Riemen über den Kopf und klappte die Schulterstütze herum. Dann hielt er das Pferd an und wandte sich auf seinem Kutschbock um.
    Vier Menschen.
    Vier Söhne. Oder Väter. Oder Ehemänner.
    Aber es war ja Krieg. Wer darf im Krieg denken?
    Die Russen schienen zu stutzen, als sie den kleinen Wagen aus der Nacht auftauchen sahen. Sie verhielten einen Augenblick die Pferde, dann rasten sie weiter, die Körper über die struppigen Mähnen gebeugt, sich mit den Pelzmützen gegen den Reitwind stemmend. Tataren, die über die Steppe flogen wie ihr Ahne Dschingis Khan.
    Frank Gerholdt saß aufgerichtet auf dem Bock. Er starrte den vier Reitern entgegen, bis er die fahlen Flecke ihrer Gesichter sehen konnte und das Schnauben der Pferde hörte. Da riß er die Maschinenpistole empor, und schon im Emporreißen zog er den Finger durch und feuerte. In kurzen, knappen Feuerstößen – ein Reiter … der zweite … der dritte … der vierte … Die Pferde bäumten sich auf, sie schrien gellend durch die Nacht, stürzten auf die Knie und schlugen mit den Hufen durch den wirbelnden Schnee. Im Stroh des Wagens waren Rita und Frau v. Knörringen zusammengekrochen.

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