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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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offenen Feuer wieder seinen Schnee schmolz und das warme Wasser dem Pferd zu trinken gab, trat sie ab und zu an ihn heran und schluckte an den Worten, die sie sagen wollte.
    »Wie lange noch?«
    Frank Gerholdt hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
    »Hat es denn überhaupt noch einen Sinn?«
    »Sonst würde ich nicht weiterziehen!«
    Frau v. Knörringen sah über die verschneite, endlose Landschaft der pommerschen Tiefebene hinweg. Eine weiße Einöde wie das Innere der Antarktis, unbezwingbar für drei verhungerte Menschen und ein zitterndes Gerippe von Pferd.
    »Wäre es nicht besser, Sie würden uns erschießen?« fragte Frau v. Knörringen leise.
    »Sie sind verrückt!« sagte Gerholdt grob.
    »Nein. Ich habe Angst. Verhungern ist ein furchtbarer Tod. Erfrieren grauenvoll. Unter den Händen der Russen zu sterben das Schrecklichste dieser Welt! Aber so ein Schuß, Herr Gerholdt, so ein Schuß ist eine wundervolle Erlösung. Eine Waffe kann auch ein Segen sein –«
    »Sprechen Sie nicht weiter!« schrie Gerholdt sie an. »Solange ich kriechen kann, ziehen wir weiter! Wie können Sie verlangen, daß ich mein Kind erschieße …«
    »Nicht Rita! Erschießen Sie mich –«
    »Gehen Sie zum Wagen!« antwortete Gerholdt grob. »Es geht gleich weiter! Und halten Sie den Mund!«
    »Warum denn … Warum denn weiter? Wo wollen Sie denn hin? Ans Meer? Nach Danzig? O ich kenne Ihre Pläne, als könnte ich Ihre Gedanken lesen! Sie wollen ans Meer und mit einem Schiff nach Deutschland! Das ist doch Irrsinn, Herr Gerholdt! Der Russe ist schneller als wir … wir laufen ihm nicht davon. Er wird vor uns in Danzig sein … wir wanken in seine Arme hinein! Warum also die Qual … warum noch Hunderte von Kilometern fliehen? Machen Sie doch Schluß mit dieser sinnlosen Quälerei … Erschießen Sie uns!«
    »Sie sollen schweigen!« brüllte Frank Gerholdt. Über seinen Körper lief ein wildes Zucken. »Gehn Sie zum Wagen!«
    »Sie wissen es so gut wie ich. Sie spielen Rita etwas vor, was Sie selbst nicht mehr glauben … Freiheit und Leben! Sie wissen wie ich, daß wir eines Tages hier auf der Straße, im Schnee verrecken werden wie zu Tode gehetzte Tiere. Verrecken wie Zehntausende vor uns und nach uns. Warum sollen wir besser sein als sie? Warum sollen wir klüger sein als sie? Warum sollen wir, gerade wir, aus dieser Hölle hinauskommen?«
    »Weil ich es will!« schrie Gerholdt grell. »Verstehen Sie es endlich: weil ich es will! Will! Will!«
    »Was nutzt Ihr Wille, wenn Gott nicht mehr will?« sagte Frau v. Knörringen leise und demütig. »Er hat sich abgewendet von uns.«
    »Dann werde ich so lange schreien, bis er sich wieder zu uns umwendet!«
    »Gott läßt sich nicht anschreien!«
    »Gott! Wo ist Gott?«
    »Überall –«
    »Überall – ein gutes Wort. Dann wird er mich auch überall sehen, und er wird sehen, daß ich will! Leben will für Rita! Er wird mich sehen und sagen: Da dieser Gerholdt – er ist meine schwärzeste Schöpfung. Aber er hat Mut, er hat einen Willen! Und Gott ist bei den Mutigen. So, und jetzt ziehen wir weiter.«
    Und sie zogen weiter. Aber sie änderten ihre Taktik. Sie wanderten nicht mehr am Tage durch die trostlosen Schneeweiten, der fernen Sehnsucht Meer entgegen, sondern sie durchzogen die Nacht, Schemen gleich, die kaum hörbar durch den Schnee schwebten und in den Nebeln der Nacht verschwanden wie Spukgebilde.
    Frau v. Knörringen sprach nicht mehr mit Gerholdt über diese Stunde der tiefsten Verzweiflung. Aber sie beobachtete mit wachen Sinnen die Entwicklung der Flucht und war im tiefsten Inneren bereit, freiwillig auf das Leben zu verzichten, wenn ihre Anwesenheit nur andeutungsweise eine Belastung für Rita oder Gerholdt werden sollte. Sie wollte einfach in der Nacht verschwinden, sich in eine Schneeverwehung legen und erfrieren. Ein schrecklicher Tod, aber nicht schrecklicher als der, den Tausende bereits links und rechts der Fluchtstraßen erlitten hatten, Gott nicht mehr verstehend, daß er so etwas zuließ unter dem Himmel, den er geschaffen hatte.
    Westlich von Dirschau, dort, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzten, hörten sie zum erstenmal wieder das Donnern von Kanonen und die Einschläge von Artilleriefeuer. Der Nachthimmel war übersät mit zuckenden Fingern, die hinauf in die Unendlichkeit flammten, als wollten sie eine blinde Gerechtigkeit aus dem Schlaf reißen.
    Rita sah mit weitaufgerissenen Augen auf den zuckenden Horizont. Sie hockte im Stroh, bis zum Hals in die

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