Schicksal aus zweiter Hand
Sie umarmten sich und drückten die Köpfe unter die Decken. Über sie hinweg peitschten die Schüsse Gerholdts.
Aus dem Knäuel von um sich schlagenden Pferdeleibern schälte sich eine kleine Gestalt. Sie hob die Arme weit empor und kam auf den Wagen zu.
Er ergibt sich, durchfuhr es Gerholdt. Der letzte der vier ergibt sich. Mein erster Gefangener … Mein Gott, was soll ich mit einem Gefangenen? Ich kann ihn nicht mitnehmen, ich kann ihn nicht laufen lassen – er würde mir eine Armee auf den Hals hetzen.
Er hob noch einmal die Pistole.
Gott, verfluche den Krieg, dachte er schaudernd. Selbst die Wehrlosen und sich Ergebenden müssen sterben … Das ist der Mensch, den du erschaffen hast! Warum hast du die Erde nicht so friedlich gelassen, als nur das Tier lebte und noch kein Mensch?!
Er sah dem durch den Schnee schwankenden Russen entgegen. Er war verwundet, das sah er an dem Gang des Tataren. Er sah die hoch erhobenen Hände, er sah in das gelbliche, breite, flache Gesicht mit den kleinen schräggestellten Augen – er sah den Mund, der schmerzverzerrt war und gefroren in einer erkennenden Angst.
»Es geht nicht anders, Kamerad!« sagte Gerholdt leise. »Ich tue es für Rita … Ich werde ein Schwein, um meine Tochter zu retten! Ich glaube, du würdest es auch tun …«
Der Russe verstand ihn nicht. Er stand unten vor dem Pferd und sah zu Gerholdt hinauf. Ein fast tierisch-bettelnder Blick. Laß mich leben, Brüderchen. Bitte, bitte, laß mich leben …
Frank Gerholdt schüttelte langsam den Kopf. Dann schoß er. Nur einmal … in dieses gelbe Gesicht hinein. Im Mündungsfeuer sah er den kleinen Tataren zusammenbrechen.
Dann war wieder die unendliche Stille der Nacht um sie herum. Mit geschlossenen Augen saß Gerholdt auf dem Kutschbock. Der Blick des Tataren ließ ihn nicht wieder los, dieser hündisch ergebene Blick, der erstarrte und versteinerte, als er die Pistole hob.
Ein leises Wiehern neben sich ließ ihn aufschrecken. Eines der Pferde, das unverletzt geblieben war, stand neben dem Wagen und leckte Gerholdts abgemagertem Gaul das Fell.
»Dich kann ich gebrauchen«, sagte Gerholdt leise. »Mit zwei Pferden erreiche ich das Meer! Du bist ein kluges Tier –«
Er sprang vom Bock, band den kleinen Tatarengaul hinten an den Wagen und zog dann weiter über die einsame Straße, das Schlachtfeld umgehend, wo vier Menschen und drei Pferde in der Kälte erstarrten.
Eng zusammengedrückt lagen Rita und Frau von Knörringen unter den Decken und Betten im Stroh und schliefen. Die Erschöpfung war stärker als jede Angst … oder war sie gnädiger?
Als der Morgen graute, trabten sie noch immer allein durch die Weite des Landes. Jetzt zog der Tatarengaul den kleinen Wagen, Gerholdt hatte ihn umgeschirrt. Zum erstenmal durfte das knorrige Pferd sich ausruhen … mit gesenktem Kopf wankte es hinter dem Wagen her und fraß das Stroh, das zwischen den Ritzen der Holzbretter hervorquoll.
Die Front seitlich von ihnen verblaßte. Das Donnern wurde schwächer.
Am Morgen – genau um Viertel nach acht Uhr (Gerholdt sah auf seine Uhr, um diese Zeit nie zu vergessen) – trafen sie nach sechs Wochen auf den ersten deutschen Soldaten. Es war ein Kradmelder, der durch die Gegend irrte, um seine Kompanie zu suchen, die hier liegen sollte und die niemand gesehen hatte.
»Wo kommt denn ihr her?« fragte der Unteroffizier. Er knöpfte seine Tarnjacke auf und warf Gerholdt eine Packung Zigaretten zu.
»Aus Angerburg. Aus Ostpreußen …«
»Aus Ostpreußen?« Der Unteroffizier wischte sich über die Augen. »Mensch Meier – dann seid ihr ja mitten durch die russischen Divisionen gezogen. Mitten durch den sowjetischen Aufmarsch …« Er lachte und reichte Gerholdt seine Feldflasche hin. »Trink, Kamerad – – – ist Rum drin! Wenn das der Goebbels erfährt, biste der Nationalheld für'n Endsieg …« Er lachte. Und Frank Gerholdt lachte mit … laut, befreiend, fast hysterisch.
Seit sechs Wochen wieder lachen. Er bog sich vor Lachen.
Er hatte das Schicksal besiegt und sein Leben gewonnen.
Drei Wochen später fuhren Rita, Frau von Knörringen und Frank Gerholdt mit einem Motorboot von Gdingen aus hinaus auf die Ostsee in die Freiheit.
Am Kai des Hafens vollzog Gerholdt die schmerzlichste Tat seines Lebens … er erschoß sein treues Pferd, seinen Lebensretter. Er konnte es nicht mitnehmen, und er wußte, daß es verhungerte, wenn es zurückblieb. Darum erschoß er es, nachdem er eine Stunde lang mit ihm
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