Schicksal aus zweiter Hand
Ritas Hand und legte sie an seine Wange. Sie war kalt und zart und schmal. Ein zierliches Gebilde aus porzellanenen Knöchelchen, seidener Haut und feinen, blauen Aderfiligranen.
»Ich habe manchmal Angst, Rita«, sagte er leise.
»Du? Angst?«
Sie lachte leise. Es war so unmöglich, daß er Angst empfand.
»Vor dem Morgen, Rita – – –«
»Aber Vati!« Sie schüttelte die langen, blonden Locken, und ein Zug von Verständnislosigkeit huschte über ihre hellen, blauen Augen. »Die Fabrik ist aufgebaut, und sie wächst von Woche zu Woche. Du hast Aufträge auf Jahre hinaus … du hast es selbst bei einer kleinen Feier im Betrieb gesagt: Wir sind krisenfest – – –«
»Das Werk – ja.«
»Du bist das Werk!«
Frank Gerholdt lächelte matt. Jetzt, nach einer Arbeit, vor deren Ergebnis er selbst verwundert saß und es nicht begreifen konnte, überfiel ihn wieder die Angst vor dem Gestern, vor dem Dunkel und dem Zwielicht seiner Vergangenheit, das alles Licht der Gegenwart nicht überdecken konnte.
Er ahnte, daß irgendwo in diesem zerstörten und wieder aufgebauten Deutschland ein Feind saß. Ein stiller, zurückgezogen lebender, ergrauter Feind, der auf den Zufall hoffte, der manches Verbrechen schon gesühnt hatte. Vor diesem kleinen, etwas dicklichen Dr. Werner war er noch immer auf der Flucht. Nicht mehr körperlich, sondern seelisch und auch geistig.
Wie bei seinem ersten Aufstieg vor und im Krieg wurde auf keinem Geschäftspapier, bei keinem Vertrag, bei keiner Veröffentlichung sein Name genannt. Nur der neutrale Firmenname trat in Erscheinung … war es unerläßlich, daß unter den Verträgen ein Name stehen mußte, so unterschrieb sie mit voller Prokura nur Dr. Schwab.
Diese Flucht in die völlige Anonymität war der einzige Schutz Frank Gerholdts. Aber wie lange würde dieses Versteck bestehen können? Ein Zufall nur, die Nennung seines Namens in irgendeinem Zusammenhang … und das ganze herrliche Riesengebäude aus Stahl, Beton, Glas und Aluminium würde über ihm zusammenstürzen und ihn und Rita begraben.
Auch Rita … Das war der furchtbarste Gedanke Gerholdts.
Rita goß wieder die Gläser voll Rotwein. Er funkelte in den zuckenden Flammen der brennenden Scheite des Kamins. Vielfältig brach sich das Licht im Schliff des Kristalls.
»Mach dir um mich keine Sorgen, Vati«, sagte sie und reichte Gerholdt das gefüllte Glas hin. »Nach dem, was hinter uns liegt, kann uns nichts mehr erschüttern. Wir haben die grausamste Zeit überlebt.«
»Wenn es so wäre, würde Gott schlafen.«
»Wie meinst du das, Vati?«
Gerholdt winkte ab und erhob sich seufzend aus seinem Kaminsessel. »Wie soll ich es dir erklären, wenn ich heute selbst keine Erklärung mehr dafür finde? Es ist wie das Betrachten alter, verblichener Bilder. Da siehst du dich wieder und glaubst kaum, daß du es selber bist. Du kannst es nicht verstehen, daß du so ausgesehen hast, daß du diesen Anzug getragen hast, daß du die Haare so geschnitten hattest und diese schrecklichen Schuhe trugst. Aber du bist es … das Bild lügt nicht. Es ist ein Dokument. Und plötzlich erkennst du: Ja – dieser Mensch da, das bist du! Du trägst heute zwar einen anderen Anzug, andere Schuhe, andere Haare … aber der Mensch, das bist du! Er hat sich nicht geändert … nur das Gesicht, die Verpackung des Körpers! Alles andere ist gleich geblieben … die Ideen, die Ideale, die Sehnsüchte, die Leidenschaften, die Ängste … alles ist noch da, vielleicht das eine größer oder kleiner, ausgeprägter jetzt oder abgeschwächt … aber sie sind da! Es gibt keinen Menschen, der ganz der Vergangenheit entfliehen kann.«
»Willst du das denn?«
Rita schaute ihren Vater groß an. Sie verstand seinen ungewohnten wilden Ausbruch nicht … sie dachte an die Flucht, an die Erschießung der Tataren, an die Kühe inmitten des Trecks, die Gerholdt zu retten versuchte, indem er rücksichtslos die Maschinenpistole vor die hungernden Männer hielt.
»Du hast doch nichts Schlechtes getan, Vati!« sagte sie leise und fast tröstend. »Du hast uns nur das Leben gerettet.«
Gerholdt nickte. »Du hast recht«, sagte er ausweichend. »Du hast immer recht. Was es auf der Welt gibt, dich glücklich zu machen, werde ich versuchen, dir zu geben.«
»Du verwöhnst mich maßlos, Vati.«
»Nein.« Gerholdt schüttelte den Kopf. »Ich korrigiere nur das Schicksal – – –«
Im Winter 1952 belegte Rita Gerholdt an der Universität in Bonn die Fächer Medizin
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