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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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empor. Weite, lichte Hallen, schlanke Verwaltungsgebäude mit Glas und Sichtbeton, Mosaikfronten und eloxierten Fensterreihen. Den Strom hinein schoben sich neue Verladebrücken … Anfahrtsstraßen wurden asphaltiert … in den weiten Hallen dröhnten die Maschinen, donnerten die elektrischen Walzenstraßen und bliesen jaulend die Schmelz- und Veredelungsöfen.
    Stahl! Deutscher Edelstahl! Ein Härtegrad, der verblüffte, eine Reinheit, die unwahrscheinlich war. Das Geheimnis Dr. Schwabs, für das es keine Formel gab, die irgendwo in einem Tresor ruhte und die vielleicht gestohlen werden konnte.
    In diesem Wirbel eines unwahrscheinlichen Aufbaues, eines stillen, unsichtbaren, aber grausamen Machtkampfes gegen alle Welt, einer Verleumdung und Niedertracht ohne Beispiel ging Rita ihren stillen Weg. Sie besuchte in Düsseldorf das Gymnasium, sie lernte in ihrem Arbeitszimmer, dessen Fenster hinaus zum Rhein gingen, die Vokabeln und mathematischen Gleichungen, sie büffelte über den Hausaufgaben und über den chemischen Formeln angenommener Versuche. Ab und zu – an den Abenden vor allem – saß Frank Gerholdt neben ihr und sah die Hefte durch.
    Die Jahre glitten zurück. Er war ein Schulbub und brütete über einer lateinischen Übersetzung des Caesar. Der Vater hatte ihm den Pons – die bei allen Schülern so beliebte Übersetzung im Taschenformat – weggenommen, und er war wütend und hilflos. Er erinnerte sich noch gut an seine Schule. Über dem Eingang war in den Stein ein Spruch gemeißelt: Deo musis patriae … Gott, den Musen und dem Vaterland. Ein heroischer Spruch, die Weisheit der Humanitas … Und da saß er nun, ohne Pons, und Caesar sprach von Gallien und den Germanen …
    Zehn Jahre später war er Gelegenheitsarbeiter im Hamburger Hafen, ein hungernder, vagabundierender Arbeitsloser, der das Kind des Reeders von Buckow raubte, um hunderttausend Mark von ihm zu erpressen!
    Ohne Caesar, ohne Pons, ohne den Gallischen Krieg.
    Und fern von allem deo musis patriae …
    Das Leben! Man lernt es auf keiner Schulbank. Man lernt es auf der Straße.
    »Du kannst das noch, Vati?« sagte Rita dann manchmal, wenn er eine kleinere mathematische Aufgabe löste oder ihr in Physik half. Und Gerholdt lächelte und sagte das, was alle Väter sagen und immer wieder sagen werden:
    »Ich war einer der besten Schüler der Klasse …«
    Immer sind alle Väter die besten Schüler der Klasse gewesen. Es darf gar nicht anders sein. Der Nimbus des Vaters verlangt diese kleine, uralte Lüge – – –
    Nun hatte Rita ihr Abitur gemacht. Ein gutes Abitur, Sie war zwar nicht die beste, wie es der Vater gewesen war, aber sie hatte viele gute Zensuren im Zeugnis und galt als begabt in den Fächern ihrer Neigung. Besonders stolz aber machte es Gerholdt, als sie in der Meldung zum Abitur als Berufsziel eintrug: »Ich möchte Ärztin werden, um allen Hilfebedürftigen zu helfen.«
    »Ich werde nach Bonn gehen«, sagte Rita, als Gerholdt diese Berufswahl mit ihr am offenen Kamin bei einer Flasche Rotwein durchsprach. »Und dann werde ich später in deiner Nähe eine Praxis aufmachen und bei dir als Werksärztin eintreten.«
    »Wunderbar! Und meine Belegschaft wird Schlange stehen und wöchentlich zig Stunden Arbeitszeit versäumen, nur um von dem schönen Fräulein Doktor behandelt zu werden«, scherzte Gerholdt.
    »Es ist ein schweres Studium, was du dir ausgewählt hast«, sagte Gerholdt später, nachdem sie die Gläser ausgetrunken hatten. »Ich habe Sorge, daß du es durchhältst.«
    »Weil ich so dürr bin?«
    »Du weißt, daß du einmal sehr krank warst, Rita.«
    Sie nickte und streichelte Gerholdt zart über die eingefallenen Wangen. »Du hast mich mit deinem Blut gesund gemacht, Vati – – –«
    »Wer hat dir das gesagt?«
    »Dr. Schwab.«
    »Er ist ein dummer Schwätzer«, sagte Gerholdt grob.
    »Ich habe weniger Sorge um mich als um dich. Du bist nur ein Gast hier im Haus … du bist in der ganzen Welt zu Hause und doch nirgendwo. Warum gönnst du dir keine Ruhe, Vati? Wieviel hast du schon erreicht … nun ruhe dich aus.«
    Gerholdt sah in die Flammen des Kamins. »Davon verstehst du nichts, Rita. Für mich gibt es keinen Stillstand, gibt es einfach kein Ziel, das, einmal erreicht, auch das letzte Ziel bleibt. Warum? Ich kann es dir nicht erklären, Rita. Dir nicht – – – auch Dr. Schwab nicht. Nur meinem sittlichen Gewissen … wenn man mir überhaupt noch ein Gewissen zutraut.«
    »Aber Vati – – –«
    Er nahm

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