Schicksal aus zweiter Hand
Sie doch so gut wie ich.«
»Es gibt im Leben immer Ausnahmen. Eine solche ist der Fall Gerholdt. Er ist mein eigener Fall!«
Reutter sah auf seine Uhr. »Schon vier Uhr. Mutter wartet mit dem Kaffee. ›Ich gehe schnell 'rüber und führe den Neuen ein‹, habe ich gesagt. Nun wartet sie und wird wieder schimpfen.« Reutter blinzelte Dr. Werner an. »Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Wieder ein Minus. Ihnen fehlen so viele praktische Lebenserkenntnisse. Eine der wichtigsten: Je älter die Frauen werden, um so anhänglicher werden sie auch! Mahlzeit, Herr Kollege!«
Als Kriminalrat a.D. Reutter gegangen war, holte Dr. Werner wieder das dünne Aktenstück aus der Schublade seines Schreibtisches. Er schlug es auf und betrachtete das Bild der schönen, jungen, blonden Frau, das obenauf lag.
»Ich bin ein Versager, ich weiß es …«, sagte er leise. »Aber mir gegenüber steht ein Mann, vor dem es keine Schande ist, der Unterlegene zu sein.«
Frank Gerholdt traf auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt ein und fuhr mit einer Taxe sofort weiter nach Bonn. Als er auf dem Flughafenplatz einen Wagen heranwinkte und sagte: »Nach Bonn!«, schaute ihn der Taxichauffeur dumm und verständnislos an.
»Wohin?« fragte er.
»Nach Bonn! Ist das so ungewöhnlich?«
»Es sind immerhin über einhundertfünfzig Kilometer, mein Herr! Da nimmt man besser einen Zug.«
Frank Gerholdt griff in die Seitentasche seines Rockes und drückte dem Chauffeur zwei Hundertmarkscheine in die Hand. »Ich fahre lieber mit einem Auto!«
Das Geld überzeugte. Es überzeugt immer. Ohne weitere Fragen riß der Fahrer die Tür des Wagens auf.
»Fahren Sie auf den Kaiserplatz in Bonn«, sagte Gerholdt. »Wenn Sie innerhalb zwei Stunden in Bonn sind, erhalten Sie noch einmal hundert Mark.«
Wie ein Geisterauto jagten sie über die Autobahn, auf der linken Fahrseite, fast dauernd auf die Hupe drückend, die Strecke freifegend von anderen Wagen, die sich schnell an die Seite flüchteten.
Sie brauchten zwei Stunden und zehn Minuten. Frank Gerholdt stand auf dem Kaiserplatz von Bonn, in der Hand eine kleine, blaue Flugtasche, in der Tasche seines Sommermantels eine Pistole.
Die letzte Lösung des Problems.
Die letzte?
Frank Gerholdt setzte sich in das Café Kaisereck. Er hatte Angst. Nicht Angst vor der Tat, sondern Angst vor den seelischen Konsequenzen. Er war nicht mehr der Bursche aus dem Hamburger Hafen, der bedenkenlos ein Kind stahl, ein Kindermädchen würgte und die Eltern aus Verzweiflung in den Tod jagen sah … das Leben hatte ihn in dreiundzwanzig Jahren durcheinandergerüttelt, er war ein Mann geworden, der dieses Leben bezwang, der über Millionen verfügte, der durch Angst und Schrecken gegangen war, den nichts erschreckte, weil er nur ein Ziel, ein einziges großes Ziel vor Augen hatte: ein sorgloses, schönes Leben für Rita!
Und jetzt, an diesem Ziele angelangt, ausgepumpt, erschöpft, brach seine ganze Welt zusammen durch einen Zufall, dessen sich das Schicksal mit einem ironischen Lächeln bediente.
Nun fehlte ihm der Mut, auch diesen Zufall wieder zunichte zu machen. Ihm fehlte bei aller Notwendigkeit, die er glaubte zu besitzen, die Kälte, Fred von Buckow einfach zu töten, wie er es mit Petermann getan hatte.
Ich werde ihm fünfhunderttausend Mark bieten, eine halbe Million! Aber noch während er es dachte, kannte er die Antwort Fred v. Buckows: »Man kann unsere Liebe nicht auszahlen!«
Frank Gerholdt bestellte noch eine Kanne Kaffee. Er aß einen Zwieback, starrte gedankenlos auf die Straße und ab und zu auf die Uhr. Nach zwei Stunden erhob er sich, zahlte und mietete sich eine Taxe.
»Nach Düsseldorf-Lohausen!«
»Wohin?« fragte der Fahrer genau so dumm wie sein Kollege in Frankfurt.
»Nach Düsseldorf«, sagte Gerholdt laut.
Feigling, dachte er. O du erbärmlicher Feigling! Wie willst du nun alles weitergehen lassen? Willst du kapitulieren? Willst du dein Lebenswerk aufgeben? Willst du Rita weggeben? Verlieren? Nie wieder sehen? Nie?
Er lehnte sich in die Polster des Wagens zurück und schloß die Augen. Während sie über die Autobahn nach Düsseldorf rasten, rang Gerholdt mit sich selbst und kam doch zu keinem Sieg über sich. Er schauderte vor der Tat zurück, er zögerte vor einer Entscheidung … er entschloß sich für das Zurückziehen, für das Versteck … so, wie er vor dreiundzwanzig Jahren begonnen hatte, in einer Laube draußen vor den Toren Hamburgs, schlafend auf einem muffigen Bett, den
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