Schicksal aus zweiter Hand
Durch die breite Glasscheibe, die das Vorbereitungszimmer vom eigentlichen Operationsraum trennte, winkte er Dr. Manger zu. Frank Gerholdt stand neben ihm. Ein Krankenpfleger half ihm beim Entkleiden.
Über den Flur rollte das kleine Bettchen mit der schlafenden Rita.
Frau Möllen sah es aus ihrem Wartezimmer an sich vorbeigleiten. Sie schluchzte und wandte den Kopf zur Wand.
Noch lange nach dem leisen Zuklappen der OP-Tür war ihr lautes Weinen der einzige Laut, der durch die stillen Flure der Klinik drang.
Im Operationssaal lagen sie jetzt nebeneinander … Gerholdt, den linken Arm zur Seite auf eine sterile Unterlage gelegt, die Hohlnadel mit dem Zweiwegehahn schon in der Vene. Neben ihm, durch eine weißbespannte Wand getrennt, lag Rita, betreut von Dr. Manger und einer jungen Ärztin, die Atmung und Puls kontrollierte.
Frank Gerholdt zuckte zusammen, als Rita leise aufweinte. Prof. Sentz legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.
»Ruhig … ganz ruhig … Es ist alles normal. Es geschieht nichts, was Sie aufregen könnte.« Seine Stimme war beschwörend, einschläfernd, fast hypnotisch. »Sie müssen ganz ruhig bleiben. Ganz still liegen. Wenn es Ihnen schlecht wird, sagen Sie es sofort.«
Gerholdt nickte. Er biß die Zähne aufeinander und wandte den Kopf zur anderen Seite. Er konnte nicht mehr die weiße Wand ansehen, hinter der Rita lag, durch Gummischläuche und Glasröhren mit ihm verbunden. Rita, die mit dem Tod kämpfte und die sein Blut retten sollte. Das Blut eines Verbrechers, der vor einem Jahr … Nein, sagte er sich. Nein. Nicht daran denken! Rita ist deine Tochter! Jetzt, in diesem Augenblick, ist sie wirklich deine Tochter! Sie hat dein Blut in sich, sie ist dein Wesen, sie ist von dir neu geboren worden … zurückgerissen von der Schwelle des Todes, an der sie stand und von der sie niemand retten konnte als ich! Ich, ihr Vater! Jetzt, jetzt wirklich ihr Vater …
Er spürte eine tiefe Mattigkeit durch seinen Körper rinnen. Er fühlte, wie sein Herz langsamer schlug, wie eine große Müdigkeit ihn ergriff, ihm die Lider über die Augen zog, wie eine wohltätige Schwäche durch seine Glieder rann.
Mein Blut fließt in sie hinein, dachte er glückselig. Mein Blut rettet sie jetzt. Mein Herzblut … Er hörte die leisen Worte Prof. Sentz' und Dr. Mangers, er spürte ab und zu ein Rucken in der Vene, wenn der Zweiwegehahn bedient wurde, er spürte, wie sein Blut hinüberfloß in die Adern Ritas.
Er lächelte, als sich das Gesicht Prof. Sentz' über ihn beugte.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Wunderbar.« Er schluckte. Die Ergriffenheit würgte in seiner Kehle. »Kann man in diesem Augenblick sagen, daß man glücklich ist? Glücklich wie noch nie?«
Prof. Sentz nickte schweigend. Er hob den Kopf und sah Dr. Manger an. Ihre Blicke trafen sich. Es muß gelingen, sagte der Blick des Professors. Wir wollen es hoffen, antwortete der Blick Dr. Mangers.
Langsam tropften die Minuten durch die Nacht. Langsam floß das Blut durch die Glas- und Gummiröhrchen von Körper zu Körper. Unerträglich langsam, wenn ein Leben an diesem ständigen Fließen hängt, an diesem dünnen Blutstrom, der von Vene zu Vene rinnt.
In ihrem Wartezimmer war Frau Möllen unterdessen eingeschlafen. Mit dem Kopf gegen die Wand lehnend, saß sie im Korbsessel und schlief mit offenem Mund. Aber noch im Schlaf wurde ihr massiger Körper von Schluchzen geschüttelt.
Zwei Uhr morgens. Der Sturm vor den Fenstern heulte noch. Er schüttelte die Bäume leer. Trieb die bunten Blätter an den Hauswänden zu kleinen Hügeln empor. Vor der Chirurgischen Klinik hielt knirschend ein Krankenwagen. In dem stillen Haus zuckten die roten Lampen auf und riefen die Ärzte herbei. Alarm. Ein Autounfall. Sofort operieren!
Die großen Häuser des Leidens schliefen nie. Leben kam und Leben ging … der große Kreislauf der Natur.
Im OP 3 der Kinderklinik schloß Prof. Sentz den Hahn der Transfusionsleitung.
»Wir wollen an ein Wunder glauben«, sagte er leise.
Frank Gerholdt hörte es nicht mehr. Er schlief, erschöpft, aber mit einem glücklichen Lächeln.
Zehn Tage später wußte es die ganze Kinderklinik: Rita Gerholdt würde weiterleben. Das Mittel Regasanz schlug an, das frische, unverbrauchte Blut Gerholdts durchzog die kleinen Organe mit einer bisher unbekannten Lebenskraft. Jeden Tag besuchte Gerholdt seine Tochter, er brachte ihr Schokolade mit, frisches Obst, Spielzeug und saß stundenlang an ihrem Bettchen, glücklich, wenn
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