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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Schmerz und Nichtbegreifenkönnen des Unabänderlichen.
    »Das Hämoginen versagt.« Dr. Mangers Stimme war leise. »Der Körper ist durch die ständige Gabe des Mittels immun geworden und reagiert nicht mehr darauf. In der jetzigen Blutzusammensetzung spricht aber auch ein anderes Mittel nicht mehr an. Wir haben nur noch den großen Blutaustausch als letztes Mittel!«
    »Aber so tun Sie es doch!« Gerholdt beugte sich über das Bett vor. »Ich habe mich angeboten! Ich will Blutspender sein! Wer anders käme dafür in Frage als ich, der Vater?! So fangen Sie doch an damit, ehe es ganz zu spät ist!«
    »Wir müssen den Laborbericht abwarten! Sie haben zwar die gleiche Blutgruppe, aber wir wissen noch nicht, ob sich noch andere Blutfaktoren mit denen des Kindes decken! Es wäre sinnlos, eine Transfusion vorzunehmen, wenn Ihr Blut auch wieder nach wenigen Tagen nicht regenerierfähig ist!«
    Gerholdt nickte. Er verstand alles, er sah es ein, aber er sah auch, daß sie keine Zeit mehr hatten, daß hier ein kleiner Mensch lag, der langsam verlosch, so, wie in einer Lampe das Öl ausbrennt und die Flamme des Dochtes kleiner und kleiner wird, flackernd, unruhig, um dann ganz sanft, ganz leise, fast unmerklich auszugehen, hinabzugleiten in die ewige Finsternis.
    Er erhob sich und trat an das Fenster. Durch die Parkanlagen jagte der Herbststurm. Er heulte um die Ecken und wirbelte die Blätter vor sich her. Kreiselnd trieb das Laub über die Wiesen. Hinter den Fenstern einiger niedriger Steinbaracken flimmerte noch Licht. Die Isolierstation für Scharlach und Diphtherie.
    »Wie lange dauert das denn noch?« fragte er gequält.
    Dr. Manger hob die breiten Schultern. »Ich weiß nicht, Herr Gerholdt. Der Herr Professor ist selbst ins Labor gegangen. Man kann eine solche wichtige Entscheidung nicht übers Knie brechen.«
    »Natürlich nicht.« Gerholdt starrte hinaus in die stürmische Nacht.
    Ein Jahr ist es jetzt her, daß ich Rita stahl, dachte er. Wie rasend schnell so ein Jahr vergeht. Er sah noch die Villa von Buckows vor sich … die große Wiese, über die er schlich, die Terrasse, das offene Fenster, das schreiende Kindermädchen Lotte, das er schlug und mißhandelte, um den Namen des Mittels zu erfahren, das Rita retten sollte. Er sah noch ihre großen, entsetzten Augen, seine Flucht mit dem Fahrrad in die Laubenkolonie, der Tod der Familie von Buckow, seine Reise nach Köln, das Zimmer bei Frau Möllen in Köln-Riehl, die Arbeit in der Chemischen Fabrik Kalk, zehn Stunden lang Rohre verlegen bei Wind und Kälte und sengender Herbstsonne. Die Heimarbeit … Löcher in Stahlplättchen stanzen, die neue elektrische Maschine, die sie mit einer halben Flasche Wacholder auf den Namen ›Fortuna‹ tauften … alles, alles war so nah, so wie gestern oder heute geschehen … Und ein ganzes Jahr war doch vorbeigegangen, ein Jahr des Versteckspielens vor der Kriminalpolizei, vor dem Spürsinn Dr. Werners, der Stadt nach Stadt durchkämmte und auch heute noch – Gerholdt wußte es nicht – systematisch vorging und sich von Duisburg aus den Rhein hinauftastete.
    »Welcher Arzt hat die Kleine bisher behandelt?«
    Die Stimme Dr. Mangers riß Gerholdt aus seinen Gedanken und ließ ihn herumfahren.
    »Seit einem Jahr keiner mehr!«
    Dr. Manger sah erschrocken auf Gerholdt. »Das war aber mehr als leichtsinnig von Ihnen!« sagte er laut. »Sie wußten doch, was Ihre Tochter hat!«
    »Das schon! Aber der Hamburger Arzt sagte mir, daß es kein anderes Mittel gäbe als Hämoginen und daß später ein großer Blutaustausch stattfinden müßte. Solange sollte ich nur Hämoginen geben! Auf diese Auskunft habe ich vertraut und dachte, daß bis zu dem Blutaustausch kein anderer Arzt mehr sagen könne als dieser Hamburger.«
    »Man hätte die Transfusionen eher geben können!« Dr. Manger erhob sich und zog eine herzstärkende Spritze auf. »Es ist jetzt tatsächlich so, daß Sie im letzten Augenblick gekommen sind. Ein Glück, daß Sie Dr. Herzberger sofort riefen, als Sie die Veränderungen bei der Kleinen merkten.«
    »Ich habe immer auf diesen Tag gewartet.« Gerholdt sah Dr. Manger in stumpfer Verzweiflung an. »Ich habe diesen Tag wie nichts auf der Welt gefürchtet und sogar gebetet, daß er nie kommen möge. Ich habe gebetet! Wenn Sie wüßten, was das bedeutet …«
    Dr. Manger wurde einer Antwort enthoben. Durch die Tür kam ein großer, schlanker Arzt, dessen weiße Haare wie bei einem Schauspieler alter Schule bis fast auf die

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