Schicksal aus zweiter Hand
Schulter hingen. Hinter der schmalen Goldbrille funkelten die Augen, als er in den Lichtschein der Lampe trat. Er hatte eine schmale Mappe unter den Arm geklemmt und trat auf Gerholdt zu.
»Sie sind der Vater?« Er verbeugte sich knapp. »Sentz.«
Prof. Dr. Sentz musterte den bleichen, ihm mit starren Augen entgegensehenden Mann. Kurz dachte er an die Personalakten, die in der dünnen Mappe lagen. Ehemaliger Arbeiter, jetzt kleiner Zubringerbetrieb für eine Fabrik in Zollstock. Halbfertigwaren in Federn. Ein fleißiger Mann, der nur seine Arbeit und sein Kind Rita kannte. Ein Mann, der vielleicht seinen Weg machen würde. Wie nannten die Amerikaner doch diese Männer noch mal? Ach ja – Selfmademan! Prof. Dr. Sentz gab Gerholdt impulsiv die Hand.
»Eine erfreuliche Nachricht, Herr Gerholdt: Wir können Ihr Blut gebrauchen! Die Faktoren stimmen überein. Nur …« er stockte. Gerholdt umklammerte die Hand des Professors.
»Nur …« sagte er leise. Ein eisiger Ring legte sich um sein Herz. Es ist zu spät. Das wird er sagen. Zu spät … zu spät … durch meine Schuld!
»Wir werden mit der Transfusion das Leiden nur aufhalten können«, hörte er weit weg die Stimme Prof. Sentz'. »Wir zögern es hinaus … es kann sein, daß wir unter Hinzuziehung des neuen Mittels Regasanz jedes Jahr einen großen Blutaustausch vornehmen müssen, bis – das ist die große Hoffnung – mit dem Eintritt der Pubertät die Hormonsäfte des Körpers sich so völlig neu gestalten, daß fast über Nacht diese geheimnisvolle Erkrankung verschwindet. Sie wissen ja, die Pubertät ist die große Wende im menschlichen Körper. Mit ihr vollzieht sich eigentlich erst die vollkommene Menschwerdung.«
Gerholdt nickte. »Fangen Sie an, Herr Professor«, würgte er hervor. »Ich will jedes Jahr mein Blut hergeben, wenn ich Rita damit retten kann! Nur fangen Sie endlich an … ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie sie weniger und weniger wird. Ich kann es nicht mehr sehen …« Er schlug die Hände vor die Augen und schluchzte.
Prof. Sentz winkte Dr. Manger zu. »In OP 3 wird alles vorbereitet«, sagte er leise. »Gehen Sie und sehen Sie nach, ob alles klappt. Ich werde mit dem Vater sprechen. In diesem seelischen Zustand kann ich keine Transfusion ansetzen.«
Als Dr. Manger das Zimmer verließ und über den langen Flur zum OP 3 gehen wollte, wurde er von einer dicken, stark nach Eau de Cologne duftenden Frau angefallen, die bisher in einem seitlichen Warteraum seit Stunden gesessen hatte. Die Nachtschwester nahm schon seit zwei Stunden einen anderen Weg und betrat den Flur von der anderen Seite, weil Frau Möllen wie ein drohendes Untier aus dem Zimmer hervorschoß, sobald sie Tritte auf dem Flur hörte. Auch jetzt stürzte sie auf den halbdunklen Gang und warf sich Dr. Manger entgegen, der einen Augenblick verblüfft und erschrocken zurückprallte.
»Was macht Rita?!« keuchte Frau Möllen. Sie versperrte mit ihrer Körperfülle den Flur und sah Dr. Manger aus verweinten, verquollenen Augen an.
»Wer sind Sie überhaupt?« Dr. Manger wollte mit dieser Frage zunächst Zeit gewinnen, aber Frau Möllen hob energisch die Hand.
»Ich bin die Zimmerwirtin Herrn Gerholdts. Ich habe Rita mit großgezogen. Als man sie heute wegbrachte, habe ich gedacht, ich würde wahnsinnig. Jetzt sitze ich hier seit fünf Stunden, und keiner sagt mir, wie es ihr geht!« Sie begann wieder zu weinen. Ihr großer, massiger Körper wurde wie im Krampf geschüttelt. »Ich habe sie lieb wie mein Kind, Herr Doktor. Sagen Sie mir doch, ob sie noch lebt …«
Dr. Manger wischte sich über die Haare. »Wir werden sie retten«, sagte er knapp. »Herr Gerholdt wird Blut spenden. Im übrigen liegt alles in Gottes Hand.«
Er drängte sich an Frau Möllen vorbei und rannte zum OP 3.
Unter den starken Scheinwerfern wurde die große Blutaustauschaktion vorbereitet. Die Oberschwester überwachte die Sterilkocher, alle blanken Teile der beiden OP-Tische wurden mit einer Sagrotanlösung abgewaschen und keimfrei gehalten.
Dr. Manger trat an das breite Waschbecken heran, streifte die Ärmel hoch und wusch sich in dem heißen Wasser, das dampfend aus dem Hahn kam, die Hände bis über die Ellbogen hinauf. Erst mit Seife, dann mit einer scharfen Bürste, dann wieder mit Seife und einer sterilen Lösung, ehe er die Gummihandschuhe überstreifte, die ihm eine Schwester aus dem Sterilkasten reichte. Mit vorgestreckten Armen stand er inmitten des OP, als Prof. Sentz eintrat.
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