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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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seine Armbanduhr. Um seine Mundwinkel lief ein Zucken.
    »Dreiundzwanzig Minuten«, sagte er laut. »Genau dreiundzwanzig Minuten hat es gedauert, bis das Werk vernichtet war. Eine reife Leistung! Ein ganzes Leben sinnlos geworden durch dreiundzwanzig Minuten.«
    Er schwieg. Er dachte plötzlich an den Raub Ritas, an jene dunkle Nacht in Hamburg, in der er durch das Fenster des Kinderzimmers eindrang, das Kindermädchen überwältigte und mit dem Säugling auf dem Arm hinaus in den Garten sprang.
    Es hatte keine dreiundzwanzig Minuten gedauert … und doch vernichtete er damit das Leben der Familie v. Buckow.
    Er biß die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Dr. Schwab sah ihn erstaunt an.
    »Was nun?« wiederholte er laut.
    »Was nun?!« Gerholdt sah über die dunkle Menge der schweigenden Arbeiter. »Was heißt: was nun?! Wir arbeiten weiter! Wir werden die Trümmer beseitigen, ich werde neue Maschinen holen, ich werde Baracken aufstellen, Wellblechbaracken …« Und plötzlich schrie er, daß es über den stillen Platz gellte und selbst das ferne Prasseln der schwelenden Feuer übertönte: »Wir werden weitermachen! Ich lasse mich nicht unterkriegen! Ich nicht! Nicht aus der Luft von den Engländern, nicht aus dem Himmel von Gott! Ich gebe nicht auf! Ich nicht! Ich will siegen – und ich werde siegen! An die Arbeit!« Seine Stimme überschlug sich. Sie war schrill, hektisch, fast irr. Er stieß den entsetzten Dr. Schwab zur Seite und rannte als erster zu den rauchenden Trümmern. Er warf die Steine zur Seite, er wühlte sich durch die Trümmerberge vor. »An die Arbeit!« schrie er grell. »An die Arbeit! Wir werden siegen …«
    Zögernd folgten ihm die Arbeiter. Die Aufräumarbeiten begannen. Dr. Schwab stand noch immer am Eingang des Bunkers. Das grelle Schreien Gerholdts ging ihm nicht aus den Ohren. Er fror über den ganzen Körper, wenn er daran dachte.
    Er ist irr, dachte er erschrocken. Er ist von einem Fanatismus besessen, gegen Gott anzukämpfen. Wo kommt dieser Gerholdt her? Was war er früher? Welch eine Stunde seines Schicksals hat ihn so zum Gegner Gottes gemacht?
    Er kam nicht weiter mit seinen Gedanken. Eine Kompanie der Technischen Nothilfe rollte über die Rheinstraße zur Fabrik. Gerholdt stand inmitten der riesigen Trümmer und kommandierte.
    Er stand dort die ganze Nacht, den ganzen Tag, die folgende Nacht. Er stand dort, bis er zusammensank über einem verbogenen Eisenträger und Dr. Schwab ihn auf den Armen trug wie ein Kind und ins Bett brachte.
    Der Arzt gab ihm eine Beruhigungsinjektion. Aber noch im Traum schlug Gerholdt um sich und schrie mit greller Stimme:
    »Ich gebe nicht auf! Ich nicht! Ich nicht!«
    Aus Berlin kamen Sonderkuriere. Die Arbeit an der Geheimwaffe mußte weitergehen. Auf den Trümmern entstanden Baracken. In großen Blechhallen, die in Montagebauweise innerhalb weniger Tage errichtet wurden, donnerten wieder die Walzenstraßen. Ein Konstruktionsbüro wurde am Rheinufer gebaut … zusammengestellt aus einer Arbeitsdienstbaracke und einer Schalenbauweise aus fertig vorfabrizierten Betonplatten.
    In diesen Tagen schrieb Frank Gerholdt einen Brief an Rita nach Angerburg. Er hatte lange gebraucht, ehe er sich dazu entschloß. Als der Rundfunk am Tage nach dem Untergang der Fabrik die Nachrichten mit dem Wehrmachtsbericht brachte, hatte Gerholdt im Bett gesessen und den Worten des Sprechers zugehört. Dr. Schwab saß neben dem Bett und trank eine Tasse Kaffee.
    »Jetzt kommt es«, sagte Gerholdt leise, als der Sprecher den Wehrmachtsbericht von den Fronten verlesen hatte. Er hielt den Atem an. Die sonore Stimme des Sprechers füllte den Raum.
    »In der vergangenen Nacht unternahmen leichte britische Bomberverbände einzelne Störangriffe im Ruhrgebiet. Sieben Flugzeuge wurden abgeschossen. Es entstand kein nennenswerter Sachschaden …«
    Frank Gerholdt sank in die Kissen zurück. Sein Gesicht war fahl, eingefallen, zerknittert. Er starrte Dr. Schwab aus plötzlich tiefliegenden, stumpfen Augen an.
    »Haben Sie das gehört?« fragte er leise.
    Dr. Schwab stellte die Tasse mit Kaffee hin. Er nickte.
    »Ja.«
    »Ist meine Fabrik ein Dreck?«
    »Kein nennenswerter Schaden –«
    »Sie ist mein ganzes Leben gewesen. Sie ist die Zukunft Ritas gewesen! Man hat Ritas Lebenswerk vernichtet! Man hat einem unschuldigen Kinde alles, alles genommen …«
    »Es ist Krieg, Herr Gerholdt … Erst war es das Pony Ihrer Tochter, jetzt ist es die Fabrik. Morgen sind vielleicht Sie und ich

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