Schicksal aus zweiter Hand
Bergen-Belsen!«
»Danke.«
Gerholdt überblickte die verhungerten, knochigen Gestalten. Die gesenkten Kahlschädel, die leblosen, ausgepeitschten Gesichter. Er spürte ein Würgen im Hals und den Drang, dem lächelnden SS-Offizier die geballte Faust in das dicke Gesicht zu schlagen.
»Die sollen arbeiten?« fragte er mühsam.
»Und wie!«
»Ich habe keinen Platz, dreihundert Mann unterzubringen.«
»Das lassen Sie unsere Sorge sein. Die Kerle werden auf der Erde schlafen oder auf dem Platz zwischen den Trümmern! Die sind schon anderes gewöhnt.« Der SS-Offizier lachte dröhnend. »Sie sollen sehen, wie schnell wir hier die Erde ausbuddeln! Der Gauleiter verlangt in vier Wochen eine Meldung, daß eine neue unterirdische Halle ausgehoben ist! Und wir schaffen es!«
»Mit diesen Halbtoten?« sagte Dr. Schwab angeekelt.
Der SS-Offizier nickte heftig. »Sie werden es schaffen, bis sie ganz tot sind!«
In den Reihen der KZ-Sträflinge entstand Bewegung. Zwei ältere Gefangene hatten sich auf die Nebenmänner gestützt. Sie waren lebende Gerippe und wären umgefallen, wenn nicht die anderen sie aufgerichtet hätten. Ein junger SS-Mann sprang durch die Reihen und trat die beiden Entkräfteten in den Hintern. Immer und immer wieder.
»Gerade stehen!« schrie er dabei. »Saukerle – gerade stehen!«
»Lassen Sie den Mann aufhören!« sagte Gerholdt laut und grob. »Ich will Arbeiter haben, aber keine Krüppel!«
»Das sind die Besten des ganzen Lagers!«
»Um so schlimmer! Wenn der Kerl nicht aufhört zu treten, werde ich ihn in die Fresse schlagen und dem Gauleiter eine Meldung machen!«
Achselzuckend ging der SS-Offizier weg. Dr. Schwab faßte Gerholdt am Arm.
»Schicken Sie die armen Kerle wieder fort«, sagte er leise. »Mein Gott – ich kann es nicht mit ansehen. Sie verhungern vor unseren Augen! Was hat man aus diesen Menschen gemacht …«
Gerholdts Gesicht war kantig, entschlossen.
»Ich brauche sie, Dr. Schwab.«
»Was hier gemacht wird, ist öffentlicher Massenmord!«
»Schweigen Sie!«
»Nein, ich schweige nicht!« Dr. Schwab atmete heftig. »Man wird Sie eines Tages dafür zur Verantwortung ziehen! Wenn nur ein einziger dieser armen Menschen stirbt, hier an der Arbeit Ihres Werkes stirbt, fällt dieser Tod Ihnen zu! Sie sind verantwortlich! Denken Sie an Rita –«
»Schweigen Sie!« schrie Gerholdt. Die Erwähnung Ritas beim Anblick der halbverhungerten Menschen war wie ein betäubender Schlag auf sein Herz. »Wenn der Reichsführer SS sie mir schickt –«
»Es ist Mord, Herr Gerholdt!«
Frank Gerholdt biß die Lippen aufeinander. »Was wissen Sie von Mord, Dr. Schwab«, sagte er dumpf. »Was wissen Sie –«
Er hob die Hand und unterbrach sich mit dieser Bewegung selbst. Der junge SS-Mann ließ von den beiden KZ-Gefangenen ab. Der SS-Offizier schrie etwas über die dreihundert schlotternden Gestalten hinweg. Wie eine drohende, schwarze Masse standen die Arbeiter rund um die grau-weiß-blaue Kolonne, verschlossen, mit verkniffenen Gesichtern.
Gerholdt ging über den Platz, den dreihundert lebenden Toten entgegen. Er schritt ihre Reihen ab wie die Front einer Ehrenkompanie … er sah in gestorbene Augen, in Totenköpfe, die atmeten, in Gesichter, die nichts waren als ein grauer Fleck über einer gestreiften Uniform.
Am Ende der Kolonne blieb Gerholdt stehen. Er sah hinüber zu seinen Arbeitern. Er sah ihre Blicke, er sah, daß sie auf etwas warteten. Auf eine Tat.
»Männer!« sagte Gerholdt laut. Seine Stimme war zu hören bis in den letzten Winkel der Trümmerberge. »Ihr verzichtet heute auf euer Frühstücksbrot! Alles, was eßbar ist, wird sofort an die Kameraden dort abgegeben …«
Durch die Trümmer rannten die Männer, über die Eisenträger sprangen sie, sie stürzten förmlich hinzu … wie eine Welle überspülten sie die Halbverhungerten. Der junge SS-Mann, der vor wenigen Minuten noch die beiden Alten getreten hatte, schoß, wie aus einer Kanone abgefeuert, über den Platz und stürzte in die Trümmer. Er schrie und zog seine Pistole. Der SS-Offizier rannte mit hochrotem Kopf auf Gerholdt zu … er fuchtelte mit der Pistole durch die Luft und brüllte wie ein Stier.
»Ich lasse alle erschießen! Ich melde es dem Reichsführer SS! Dem Gauleiter! Ich werde alle erschießen!«
Frank Gerholdt sah ihn ruhig an. Mit der gleichen Ruhe hob er seine Faust und ließ sie auf den Arm des SS-Offiziers niederfallen. Die Faust, die einmal Kohlensäcke im Hamburger Hafen schleppte
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