Schicksal aus zweiter Hand
Fälle, die auf Eis liegen! Kapitalsachen! Dahinter sollten Sie sich knien.«
»Sie vergessen, daß Herr und Frau von Buckow ums Leben kamen.«
»Autounfall.«
»Als Folge einer Suchaktion nach dem Entführer.«
»Mein bester Werner, wenn wir alle Folgen von Verbrechen auch noch bestrafen sollten, müßten wir statt Kasernen nur noch Zuchthäuser bauen! Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Sie kommen mir vor wie ein moderner Don Quichote!«
Dr. Werner schluckte auch dies. Er verließ den Präsidenten mit einem laschen deutschen Gruß, zu dem er verpflichtet war. In seinem Zimmer nahm er noch einmal die Akte Gerholdt vor und schlug sie auf.
Obenauf lag ein Foto.
Frau von Buckow.
Renate. Schön, blond, schlank, groß.
Dr. Werner betrachtete es lange. Dann klappte er die Akte zu und verschloß sie in seinem Schreibtisch.
Er wußte, daß er die Suche nie aufgeben würde.
Nie, solange Gott ihn leben ließ …
Die Werke am Rhein arbeiteten in drei Schichten.
Tag und Nacht.
Frankreich wurde erobert, Norwegen, Griechenland, der Balkan, Rußland schluckte mit seinen Weiten die deutschen Armeen. Der Krieg wurde weltweit, unübersehbar, erschreckend groß. Über Deutschland tauchten die ersten Bombengeschwader auf und zerhämmerten das Ruhrgebiet, Berlin, Köln, die Städte am Rhein und an der Küste. Auch vor der weißen Villa am Rhein machten sie nicht halt … in einer Nacht fielen um das Landhaus Gerholdts herum sieben Bomben, die die Fenster wegrissen und die Wände abbröckeln ließen. Schreiend verbarg sich Rita an der Brust Gerholdts … das Zittern ihres kleinen Körpers war für ihn grauenhafter als das donnernde Detonieren der Bomben und das Schwanken der Kellerwände.
Am Morgen waren zwei Hallen des Werkes zerstört. Das Bootshaus am Rhein war ausgebrannt … über die große Wiese verteilt lagen die Trichter, auf deren Grund das Grundwasser gluckerte. In seinem Stall lag das Shetlandpony. Ein Splitter hatte ihm den Hals aufgerissen. Allein, inmitten des Feuers, war es gestorben. Seine Augen waren groß, starr und fast verwundert, als verstehe es die Menschen nicht mehr, die es töteten, wo es doch immer Freude gebracht hatte und mit Rita Nachlaufen spielte.
Der Tod von Joyce warf Rita nieder. Schluchzend kniete sie neben dem toten Pony und streichelte den aufgerissenen Hals.
»Joyce!« rief sie. »Mein lieber, lieber Joyce. Du darfst nicht tot sein. Komm, steh doch auf, spiel mit mir … Joyce … steh doch auf …«
Mit Mühe riß Gerholdt Rita von dem Pony zurück. Er trug sie ins Haus und wußte nicht, wie er ihren Schmerz besänftigen sollte.
»Wer hat das getan, Papi?« schrie Rita. »Wer hat Joyce getötet?« Sie weinte den ganzen Tag und schlief dann vor Erschöpfung an der Brust Gerholdts ein.
Der Krieg kam zu ihm. Die Vernichtung, die er herbeisehnte, machte auch vor ihm nicht halt. Aber er wich ihr aus – er schickte Rita mit dem Kindermädchen auf ein Gut nach Ostpreußen. In die Sicherheit! Ostpreußen lag weitab aller Flieger. In Ostpreußen war noch der Frieden. Dort weideten die großen Herden der Trakehner, dort wuchs das Korn, dort schien die Sonne, ohne daß sie die Tragflächen der Geschwader verdunkelten und die Erde aufbrüllte aus zerrissenen Wunden.
In Angerburg fand er ein großes Gut, das Rita aufnahm. Dort konnte sie die Schule besuchen. Dort konnte sie abwarten, bis der Krieg zu Ende war. Er war glücklich, als er sie in Düsseldorf in den Zug setzte und ihre kleine Hand festhielt.
»In Angerburg wirst du viele, viele Joyce finden«, sagte er zärtlich und strich ihr über die blonden Locken. »Jeden Monat komme ich dich besuchen. Es wird dir gefallen auf dem Gut.«
»Ja, Papi.«
Er küßte sie noch einmal, ehe er die schwere Tür schloß. Durch das Fenster sah er, wie sie im Abteil den Mantel auszog und ihm zuwinkte. Dann fuhr der Zug an, langsam, schnaufend. Das breite Spruchband war grell in der Sonne. Räder müssen rollen für den Sieg …
Er lief neben dem Abteilfenster her, solange es ging. Er winkte mit beiden Armen. Rita stand am Fenster und lächelte schwach. Sie verbiß die Tränen. Papi sollte nicht sehen, wie traurig sie war. Das Kindermädchen las in einer Zeitung. Deutsche Truppen auf dem Vormarsch nach Smolensk. Sie wußte nicht, wo Smolensk lag, aber sie war stolz auf die deutschen Soldaten.
Am Ende des Bahnsteiges blieb Gerholdt schweratmend stehen. Noch einmal sah er die flatternden Locken Ritas, ihre schmale Hand, die ein weißes
Weitere Kostenlose Bücher