Schicksal aus zweiter Hand
es, die vernichtet werden. Jede Nacht sind es Tausende! In Köln, in Hannover, Hamburg, Kassel, Wuppertal, Duisburg, Essen, Dortmund … Tausende von Menschen. Unschuldige Menschen, die keinen Krieg wollten. Krieg, an dem Sie verdienen, Herr Gerholdt …«
Frank Gerholdt schloß die Augen. Über sein Gesicht lief ein Zittern, ein Zucken, als zerrissen die Nerven.
»Ich bin ein Schuft«, sagte er leise. »Sprechen Sie es ruhig aus, Dr. Schwab. Genieren Sie sich nicht. Ich bin ein Hasardeur, ein Lump, der mit dem Blut anderer Menschen sein Leben aufbaut; ich bin das Symbol einer Zeit, die durch Rechtlosigkeit und Terror ein System aufbauen will, das weltbeherrschend werden soll. Ich bin ein Totengräber, ein Steigbügelhalter des ›Führers‹, des Dämonen – wie ihn der Londoner Sender nennt.« Er hob die Hand, als Dr. Schwab etwas antworten wollte. »Nein – sprechen Sie jetzt nicht. Ich habe Ihnen einmal gesagt, daß ich den Staat, den ich hasse, der mir eine große Liebe nahm, dadurch vernichten will, daß ich in der Maske des ergebenen Jüngers ihn von innen her aushöhle, bis er kraftlos zusammenbricht. Ein Doppelspiel, Dr. Schwab – Vernichtung und dabei verdienen! Ein teuflisches Duett.« Er öffnete plötzlich die Augen. »Sind Sie Schwimmer, Dr. Schwab?«
»Ja –« antwortete der junge Ingenieur verblüfft.
»Dann retten Sie sich. Schwimmen Sie schnell weg, streben Sie einem anderen Ufer zu. Sie werden in einen Strudel, in einen Sog gerissen werden, aus dem Sie nie wieder an Land schwimmen können –«
»Und Sie, Herr Gerholdt?«
»Ich werde aushalten. Ich bin es Rita schuldig –«
»Immer wieder Rita!« Dr. Schwab beugte sich vor. Seine Stimme klang beschwörend. »Gibt es denn nichts anderes als Ihre Rita?«
»Nein, Dr. Schwab.«
»Sie ist in Ostpreußen, sie ist in Sicherheit. Nach Angerburg wird nie ein fremdes Heer kommen.«
»Dafür wäre ich sogar bereit, zu beten«, sagte Gerholdt leise.
»Sie haben genug Vermögen im Ausland, Herr Gerholdt. Sie haben Bankkonten in fast fünfzehn Ländern!«
»Man wird sie beschlagnahmen, wenn wir den Krieg verlieren. Und deshalb dürfen wir ihn nicht verlieren! Nie! Nie! Aus Eigennutz, aus purem Egoismus will ich, daß wir ihn gewinnen! Und wenn Millionen verbluten – er muß gewonnen werden! Und deshalb arbeite ich weiter! Deshalb werden wir Wunderwaffen herstellen! Nur Sie steigen aus, Dr. Schwab. Sie müssen aussteigen. Sie sind ein so anständiger Kerl, Sie dürfen sich nicht verlieren in diesen widerlichen Sumpf von Gemeinheit und Gewissenlosigkeit. Gehen Sie fort …«
Drei Tage später arbeitete bereits wieder die Konstruktionsabteilung des Werkes.
Dr. Schwab blieb. Er wußte nicht, warum. Er hatte einfach das Gefühl, bleiben zu müssen. Wegen Gerholdt, wegen Rita, wegen des Werkes. Vor allem aber wegen Gerholdt. Das Geheimnis dieses weißhaarigen, hageren Mannes zog ihn an wie einen Magneten. Er war im Grunde seines Wesens fasziniert von Gerholdt.
Und sie sprachen auch nicht mehr darüber, als sie sich wenige Tage später begrüßten, als die Arbeiter mit der Errichtung einer neuen Montagehalle die Lebensader des Werkes wieder flickten …
Der Brief, den Gerholdt später an Rita nach Angerburg schrieb, war eigentlich nur eine private Fortsetzung des Wehrmachtsberichtes und lautete:
»Mein Kleines, Allerliebstes. Papis Alles!
In Düsseldorf geht alles gut. Ab und zu kommen noch die bösen Flieger, aber sie fliegen über uns hinweg und tun uns nichts mehr. Wie schön muß es jetzt bei Dir in Angerburg sein. Du wirst sicherlich im See baden und mit den Ponys ausfahren oder gar auf ihnen reiten. Hast du schon die wunderschönen Trakehnerpferde gesehen? Frau v. Knörringen schrieb mir, daß Du so artig seist und gut lernst. Lerne fleißig, meine Rita, damit du später die große Fabrik von Papi übernehmen kannst. Wenn Papi einmal alt ist, will er von der Terrasse seines Hauses zusehen, wie die Fabrik wächst, und dann will er allen, die ihn fragen, sagen: Ja, das macht meine Tochter Rita. Sie ist so fleißig …
Vielleicht komme ich Dich einmal in Angerburg besuchen, mein Kleines. Dann muß Du mit zwei Pferden am Bahnhof sein. Wir werden dann durch die Felder und Wälder reiten, und Du wirst mir alles erklären, wie es heißt, wem es gehört, ja? Und wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir uns auf einem ganz großen Schiff die Welt ansehen … die Neger und Araber, die Chinesen und Indianer, die Eskimos und Feuerländer. Weißt Du, was?
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