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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Verlauf der Front unterrichtet, ließ zwei Pferdewagen beladen und abfahrbereit in den Ställen aufstellen. Es bedurfte nur noch des Anschirrens der Pferde, und der Treck von Angerburg nach dem rettenden Westen konnte beginnen.
    Rita erlebte den Zusammenbruch der deutschen Front mit der Sorglosigkeit eines zwar denkenden, aber die Folgen nicht übersehenden Kindes. Für ihre fast dreizehn Jahre ein wenig groß, hochaufgeschossen, mit langen schlanken Beinen, die staksig wie die Beine eines Füllen durch die Wiesen stapften, mit langen blonden Haaren, die wie Goldfäden über die schmalen Schultern fielen, und mit großen, blauen Augen ging sie durch die herrliche Welt der Weiden und Seen, sah in die träge ziehenden Wolken des weiten ostpreußischen Himmels und sah zum erstenmal den Zug der Wildenten, über die Wipfel der Bäume flatternd, schreiend und geheimnisvoll wie eine alte Heldensage.
    Die zurückflutenden Truppen erschreckten sie, aber sie begriff nicht, was es bedeutete. Mit anderen Schulkindern fuhr sie mit dem Pferdewagen nach Portrinnen, einer kleinen Stadt bei Angerburg, wo die Lazarettzüge umgekoppelt wurden. Dort verteilte sie mit den BdM-Mädchen, mit Hitlerjungen und Politischen Leitern in ihren senffarbigen Uniformen Liebesgaben an die matt lächelnden Verwundeten. Zigaretten, Obst, Mineralwasser, Brot, Gebäck. Aus einem großen Kessel verteilten sie Suppe … Weißkohl mit Graupen. Sie hatte Mitleid mit den blutenden, stöhnenden Menschen und saß am Abend in Gedanken versunken bei Frau v. Knörringen am Kachelofen und starrte in die halbdunkle Stube.
    »Wird Papi mich bald holen?« fragte sie.
    »Ich habe es ihm geschrieben.«
    »Wenn der Krieg zu Ende ist, werde ich wiederkommen, Tante Berta.«
    »Es wird dann kein Angerburg mehr geben«, sagte Frau v. Knörringen stockend.
    »Warum denn nicht?« Rita sah erstaunt auf. »Wir werden die Russen wieder hinaustreiben und siegen. Das hat der Ortsgruppenleiter gesagt.«
    Frau v. Knörringen schwieg. Sie hob nur die Hand und streichelte leicht über die blonden Locken Ritas. Wie Seide waren sie. Sie dachte an die russischen Soldaten, an die Tataren, Kalmücken, Kirgisen und Mongolen. Sie hatte sie schon einmal miterlebt, als junges Mädchen, damals 1914. Sie schauderte bei dem Gedanken, daß Rita in ihre Hände fallen könnte.
    »Wir werden abreisen, wenn der Russe vor Königsberg steht«, sagte sie leise. »Wir wollen beten, daß es einen Weg gibt …«
    Der Ring der Russen um Ostpreußen wurde enger. In Polen rückte er vor … von Warschau die Weichsel aus abwärts … eine eiserne Klammer, die sich um das Land schloß und aus der es kein Entrinnen gab, wenn die sowjetischen Panzerspitzen bei Danzig die Ostsee erreicht haben würden.
    In den Nächten überflog die russische Luftwaffe das Land. Sie zerhämmerte die Straßen, sie beschoß im Tiefflug die endlosen Flüchtlingstrecks, die von Memel nach Ostpreußen hineinfluteten und über Ostpreußen hinweg durch den Korridor ins Reich wankten. Greise, Frauen, Kinder, Säuglinge auf schwankenden Holzfuhrwagen, zu Fuß, Kinderwagen mit Federbetten vor sich herschiebend, dazwischen Trecker, die Heuwagen zogen, auf denen der Hausrat aufgestapelt war, durchsetzt mit frierenden, hungernden Menschen. In diese Elendszüge hinein jagten die Garben der überschweren Maschinengewehre und fegten sie in die Straßengräben, wo sie liegenblieben, verbluteten, erfroren, verhungerten.
    Tausende … Mütter, Greise, Kinder, Säuglinge …
    Der Russe stand vor Königsberg. Plötzlich erfüllte Kanonendonner die nächtliche Stille bei Angerburg. So plötzlich, daß die Bauern verwundert vor die Türe liefen und nach Osten starrten. Sie begriffen es nicht … sie konnten es nicht verstehen … Kanonendonner …
    Der Russe kam. Bei Lyck und bei Ortelsburg überrannte er die deutschen Divisionen, die kaum regimentsstark dem Druck nicht mehr standhalten konnten und zerbrachen wie morsches Holz. Die deutschen Panzer lagen hilflos ohne Brennstoff im Schnee … sie wurden abgeschossen wie Zielscheiben und füllten den Himmel mit ihrem Feuerschein aus.
    Die ganze Nacht hindurch rollten Verstärkungen durch Angerburg an die Front. Junge Kerle, kaum ausgebildet, alte Männer mit blassen, ausgemergelten Gesichtern. Landesschützen, wie man sie nannte. »Zum Sterben ist keiner zu alt oder zu jung!« schrie der Kreispropagandaleiter von Ortelsburg, ehe er seine Koffer packte und als erster die bedrohte Stadt verließ. Zum Aufbau

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