Schicksal aus zweiter Hand
und Kisten mit Stahlfedern in der Kölner Baracke. Aus den kraftlos gewordenen Fingern des Offiziers rutschte die Waffe zu Boden.
»Ich will Arbeitskräfte haben – Kräfte, Herr Sturmführer – aber keine Toten! Wir wollen aufbauen, aber nicht sterben! Das werde ich melden!« sagte Gerholdt hart.
Er ließ den vor Wut zitternden SS-Sturmführer stehen und wandte sich ab. Er ging hinüber zu den dreihundert Häftlingen, die wie Tiere auf der Erde saßen und mit vollen Backen die Frühstücksbrote der Arbeiter verschlangen. Sie würgten sie in sich hinein, sie stopften mit beiden Händen. Essen … mein Gott … essen, schnell essen … wer weiß, wann es vorbei ist, wann die SS wieder kommt, wann wir wieder hungern müssen. Essen … essen …
»Ihr werdet arbeiten müssen«, sagte Gerholdt laut über die kahlen Schädel hinweg. »Ihr werdet arbeiten müssen, bis ihr umfallt – aber ihr werdet nicht hungern, solange ihr bei mir seid! Das verspreche ich euch!«
Das Kauen der essenden dreihundert Menschen drang in sein Herz. Es war ein Geräusch der Erinnerung. Er dachte an den Hamburger Hafen und an den hungernden Arbeitslosen Frank Gerholdt, der im Seemannsasyl in der langen Schlange stand und seinen Napf hinhielt für eine Kelle Wassersuppe.
Am Mittag fuhr er nach Düsseldorf und kaufte vier große Kessel. Er richtete eine Küche ein. Von den Bauern kaufte er wagenweise Gemüse … Kohl, Rüben, Spinat. Auch Obst und für teures Geld zwei Kühe.
Dr. Schwab drückte ihm stumm die Hand. Gerholdt zog sie ihm wütend fort.
»Lassen Sie das«, sagte er grob. »Ich weiß wie kein anderer, was Hunger ist –«
Die Nachrichten von der Ostfront wurden schlechter und damit spärlicher. Die deutschen Truppen gingen zurück … schon überflutete der Russe Polen … Warschau wurde zurückerobert … von Leningrad gingen dunkle Meldungen nach Ostpreußen … Der Russe marschierte auf Riga … die Umklammerung der deutschen Armee ist nicht aufzuhalten. Ostpreußen wird wieder Kriegsgebiet.
Das Russengespenst stand vor der Tür. Wie 1914 sah ganz Ostpreußen auf den Kriegsschauplatz vor seinen Grenzen. Kommt der Russe? Werden wir ihn aufhalten können?
In Königsberg wurde geschanzt. Panzersperren entstanden auf den Landstraßen, der Volkssturm wurde aufgerufen. Gauleiter Koch schrie durch den Königsberger Sender … die ersten Hinrichtungen wegen Feigheit vor dem Feind fanden statt. Eine hektische Betriebsamkeit durchzitterte das Land, der eine lähmende Erwartung und eine stumme, verbissene Beobachtung folgten. Der Russe im Anmarsch! Würde Ostpreußen sterben?
Gab es wieder einen Hindenburg und Ludendorff, die die Russen aus dem Land jagten und Ostpreußen retteten?
Gab es eine Hoffnung?
In Angerburg wurde heimlich gepackt. Es mußte heimlich gehen, denn Gauleiter Koch brüllte durch den Rundfunk: Wer jetzt in der schwersten Zeit Deutschlands seinen Posten verläßt, ist ein Feigling und wird als ein solcher behandelt werden!
Das Todesurteil für etwa drei Millionen Menschen.
Für Frauen, Mütter, Kinder, Greise.
Drei Millionen bange Herzen, dreimillionenmal Angst: Kommt der Russe …?
Über Ostpreußen fluteten die deutschen Divisionen hinweg. Zuerst nach Osten – wenig später zurück nach Westen.
Treck auf Treck. Panzer, Lastwagen, Artillerie, Infanterie.
Zug nach Zug durchrollte die weiten Felder und Weiden. Ein Heer von Verwundeten füllte die kleinen Bahnhöfe mit Stöhnen und dem Gestank tagelang nicht gewechselter Verbände.
Die ersten russischen Bombergeschwader tauchten am blauen Himmel Ostpreußens auf. Sie beharkten die Straßen, sie bombardierten die Schienenwege, sie zerhämmerten die Festungen.
Wo kamen sie her? Sagte nicht Göring: Es gibt keine russische Luftwaffe mehr? Sagte nicht Hitler: Rußlands Kraft ist ein für allemal gebrochen! Das russische Heer befindet sich in völliger Auflösung. Sagte nicht Goebbels: Die russische Dampfwalze ist zerbrochen?!
Wo kommen sie bloß her? Woher bloß?
Gauleiter Koch, der ›König von Polen‹, gab seine Tagesbefehle heraus.
Bis zur letzten Patrone! Bis zum letzten Mann! Bis zur letzten Straßenecke! Verbrannte Erde! Der Sieg wird unser sein!
Wenn er gesprochen hatte, fuhr er auf eines seiner Güter, soff sich voll wie ein Schwein und befahl wie ein arabischer Fürst die Mädchen reihenweise in sein Bett.
Kommt der Russe? Was wird aus Ostpreußen?
In Ostpreußen lag das Führerhauptquartier. Die ›Wolfsschanze‹. Wird der Führer
Weitere Kostenlose Bücher