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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vermummten, bebenden Frauen. Aber vor diesem trostlosen Haufen letzter Habe hockte eine Gestalt und hielt in den Händen den Tod.
    Peter Borken sah hinüber zu Frank Gerholdt. Durch seinen Körper zog ein heißer Strom. Die Augen, dachte er plötzlich. Das war es, was mich damals erschütterte, als ich ihn zum erstenmal sah und er sich für die Milch bedankte. Diese harten, eiskalten Augen in dem ausgemergelten Gesicht mit den weißen Haaren. Er kann töten ohne zu denken, er wird sie alle dreißig umlegen, ohne es zu bereuen. Dreißig Männer wegen zehn Kühen … Väter von Kindern, Männer hungernder Frauen.
    »Geht zurück!« schrie Peter Borken. »Ich schenke euch die eine Kuh. Nur geht zurück! Er schießt ohne Rücksicht.«
    »Das werde ich!« sagte Gerholdt grimmig. Etwas von der grenzenlosen Verzweiflung, die ihn damals 1932 ergriff und in der er zum Verbrecher wurde, durchrann ihn heute wieder und machte ihn gleichgültig gegenüber allen Bedenken. Leben – das war es! Nur weiterleben! Nicht mehr für sich, nur für Rita! Damals, ja damals wollte er Geld haben, nur für sich, viel Geld, der Traum aller Menschen, die im Schatten leben. Nun besaß er Millionen … aber er fühlte sich ärmer als je. Neben sich spürte er Rita. Sie legte die Hand auf seinen Arm, auf den Arm, der die Maschinenpistole umklammert hielt.
    »Was tust du, Papi?« fragte sie kläglich.
    »Ich rette dein Leben!« schrie Gerholdt auf.
    »Du tötest die anderen, Papi!«
    »Damit du lebst!«
    Rita legte den Kopf an seine Seite. Er spürte ihr Zittern durch die Wattejacke hindurch.
    »Ich habe solche Angst, Papi …«
    »Angst …?« stammelte er.
    »Angst vor dir …«
    Über Frank Gerholdt lief ein Schauer. Er schloß die Augen. Sterben, dachte er. O sterben! Warum schießt denn keiner wieder?! Warum schießen sie mich nicht vom Bock? Warum schonen sie mich? Ich will doch sterben! Sterben! Mein Kind hat Angst vor mir. Mein Kind … O Rita, Rita – wenn es eine Hölle gibt, so waren es deine Worte für mich.
    Mitten auf der Straße standen die dreißig Männer. Peter Borken und seine Söhne lagen im Schnee. Die Kühe umstanden die erschossene Kuh und leckten ihr über das Fell.
    »Gehen wir«, sagte einer aus der schwarzen Gruppe der Männer. »Auch er wird eines Tages im Graben liegen wie wir und verhungern! Er und seine Weiber! Gehen wir …«
    Frank Gerholdt sah, wie sie sich abwandten und zurück zu ihren Wagen gingen. Sie gingen unter in der Nacht wie sich in der Schwärze auflösende Schemen, wie grauenvolle Traumgesichte. Er steckte die Maschinenpistole wieder in das Stroh neben den Kutschbock und wandte den Kopf langsam zur Seite, als ihn eine feste Hand berührte.
    Peter Borken stand neben dem Pferd am Wagen und sah zu ihm empor. Sein breites ostpreußisches Bauerngesicht war tiefernst und blaß.
    »Du hast mir die Kühe gerettet.«
    »Vielleicht –«
    »Hättest du wirklich in die Männer geschossen, wenn sie weitergelaufen wären?«
    »Hättest du geschossen?«
    Borken zögerte und sah zu Boden. »Ich weiß es nicht –« sagte er stockend. »Sie haben Hunger … sie haben wie du und ich Kinder, Frauen, Mütter, die auf den Wagen sitzen und vor Hunger weinen –«
    Frank Gerholdt kniff die Lippen zusammen. Borken hob wieder den Kopf und sah Gerholdt groß an.
    »Du hättest sie erschossen?«
    »Ja!«
    »Ohne Reue?«
    »Ohne Reue! Deine Kühe haben Rita das Leben gerettet! Hätten sie den Kühen etwas getan, wäre es gewesen, als ob sie Rita umbrächten.«
    »Rita ist deine Tochter?«
    »Ja –«
    Borken wandte sich ab. »Ich kann dir nicht danken«, sagte er leise. »Du hättest sie alle erschossen –«
    »Ja.«
    »Und was willst du als – als Lohn?«
    »Jeden Tag einen Liter heiße Milch, Borken.«
    »Du sollst sie haben!« Borken sah noch einmal empor. Ein schmales, ausgelaugtes Gesicht mit weißen Haaren sah er. Augen wie ein Adler, hart, scharf, mitleidlos. »Aber ich will nicht mehr mit dir sprechen!«
    Gerholdt nickte. »Deine Milch ist mir auch wichtiger als deine Worte!«
    »Und wie lange bleibst du im Treck?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Borken hob die Hand. »Geh bald weg! Zieh auf einer anderen Straße weiter. Sie werden dich eines Nachts umbringen … dich und deine Rita. Sie werden dir die heutige Nacht nie vergessen! Du bist ausgestoßen …«
    Gerholdt atmete heftig. Er umklammerte die hölzernen Griffe des Kutschbockes, bis seine Finger von dem Druck schmerzten. »Das ist für mich nichts Neues«, sagte er

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