Schicksal aus zweiter Hand
dem Tod.
Auf der großen Straße nach Marienburg, die in eine Festung verwandelt war und in der die Kadetten der Heeresschule die Verpflichtung übernommen hatten, bis zum letzten Mann auszuharren, gliederte sich Gerholdt der endlosen Schlange des Trecks ein, der wie eine schreckliche Völkerwanderung vermummter, hungernder Lemuren sich nach Westen und Norden wälzte.
Die Gemeinschaft mit anderen Menschen, der Anblick von Tausenden Heimatlosen, von denen wiederum Tausende an den Straßenrändern und in den Schneegräben erfroren oder vor Entkräftung und Erschöpfung starben, riß Frau v. Knörringen aus dem tödlichen Fatalismus, in den sie seit einigen Tagen gefallen war. Sie hatte sich geweigert, die Suppen zu essen, die Gerholdt bei den kärglichen Raststunden kochte, sie hatte sich geweigert zu schlafen, sie hatte sich gegen alles gestemmt, je weiter sie von Angerburg entfernt waren und je deutlicher es wurde, daß sie dieses Stückchen Erde nie wiedersehen würde. Das Ausmaß des Zusammenbruchs kam ihr erst zum Bewußtsein, als sie die Heere der Flüchtenden sah, die Kopflosigkeit der Führung und die Panik unter den Leuten der Partei.
»Lassen Sie mich liegen«, hatte sie eines Nachts zu Gerholdt gesagt. »Warum schleppen Sie mich mit? Was bin ich denn noch wert? Ich bin eine alte Frau … werfen Sie mich weg und retten Sie sich und Rita. Ich belaste Sie nur.«
Frank Gerholdt hatte sich daraufhin auf seinem Kutschbock herumgedreht und Frau v. Knörringen starr angeblickt.
»Entweder wir drei – oder gar keiner!«
»Sie müssen zuerst an Rita denken –«
»Ich denke an uns alle! Sie zurückzulassen wäre ein Mord! Aber ich morde nicht –«
Er biß sich auf die Lippen. Er dachte an Petermann, den er wie einen tollen Hund erschlug, er dachte an Herrn und Frau v. Buckow, die er durch seine Untat vernichtete.
Ich morde nicht, dachte er. Nein, ich morde nicht. An Petermann habe ich Rache genommen … für die Tat an Buckow büße ich mein ganzes Leben lang. Ich bin kein schlechter Mensch, o Gott – ich bin nur ein verirrter Mensch, der seinen Irrtum einsieht. Es gibt schlechtere Menschen als mich, und sie leben glücklich, weil ihre Schlechtigkeit sie reich und angesehen werden ließ. So ist die Welt, die du geschaffen hast. Nun geht sie unter … Es ist gut, daß sie untergeht. Baue sie neu auf, baue sie besser auf … die Menschen haben aus der Sintflut nichts gelernt …
Die Eingliederung in den großen Treck nach Westen belebte Frau v. Knörringen . Sie sah, daß sie nicht allein so unerträglich litt. Sie sah das Heer der Greisinnen und Kinder, das sich durch den mitleidlosen Winter schleppte, sie sah die Toten rechts und links der Straße und das Antlitz des Sterbens, das weder hehr noch heldisch war, wie es Gauleiter Koch zuletzt noch sagte: »Der Heldenkampf Ostpreußens wird einmal unsterblich sein wie die Heldenlieder der deutschen Sage –«
Das raffte sie auf, das weckte ihren Willen zum Weiterleben. Sie half sogar den noch schwächeren Frauen, wenn der Treck für einige Stunden anhielt, um in einem Dorf die Pferde zu füttern oder über offenen Feuerstellen das karge Essen zu kochen. Ein Großbauer aus Lyck, der mit zehn Kühen über die vereisten Straßen zog und zusammen mit drei erwachsenen Söhnen und vier deutschen Armeepistolen das Vieh vor jedem Zugriff verteidigte, gab Frau v. Knörringen und Rita je einen Becher heiße Milch ab. Es war wie ein Zaubertrank, der das Blut aufwallen ließ.
Ein Becher heiße Milch.
In der Milch ist Fett, ist Zucker, ist Kraft.
Ein ganzer Becher voll!
Frank Gerholdt drückte dem Bauern die Hand. Er sah zu der selig lächelnden Rita hinüber, die langsam die heiße Milch in sich hineinrinnen ließ. Er weinte.
»Ich heiße Frank Gerholdt«, sagte er schluchzend.
»Peter Borken«, brummte der Großbauer. Er musterte den Mann vor sich. Ein schmales Gesicht, ausgelaugt, umgeben von einem schwarzen Stoppelbart, der merkwürdig von den langen weißen Haaren abstach. Ein altes Gesicht – nur die Augen waren jung, hart und voller Willen, zu überleben.
»Ich werde mir Ihren Namen merken, Peter Borken. Ich werde ihn nie vergessen.«
»Reden Sie nicht solch einen geschwollenen Unsinn«, sagte der Bauer unwillig und wandte sich ab. Aber während er die Hände über den züngelnden Flammen des offenen Feuers wärmte, blickte er zu Rita und Frau v. Knörringen, die zwischen dem Stroh und den Federbetten hockten und dort die Nacht verbringen
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