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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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keuchend. »Ich bin immer ein Ausgestoßener! Ich habe nichts anderes gekannt. Ich stehe immer draußen …«
    Peter Borken wollte noch etwas sagen, er wandte den Kopf um … eine kurze Welle von Mitleid überflutete ihn. Aber sie verschwand, als er die Augen Gerholdts sah.
    »Laß eine von den Frauen die Milch holen«, sagte er hart.
    »Es ist gut!«
    »Willst du auch Fleisch von der erschossenen Kuh?«
    »Nein!«
    »Nicht?« Borkens Kopf fuhr herum. Dieser Stolz, dachte er. Was ist das für ein Mann?! »Wolltest du nicht die Männer erschießen, weil sie die Kühe –«
    »Wegen der Milch«, unterbrach ihn Gerholdt laut. »Eine tote Kuh ist innerhalb eines Tages aufgefressen! In zehn Tagen wäre alles vorbei gewesen! Und nach diesen zehn Tagen –? Aber zehn lebende Kühe geben Milch, heiße Milch, heißes Leben, Peter Borken! Um dieses Leben kämpfte ich! Für dieses Leben hätte ich sie alle erschossen! Für meinen täglichen Liter Milch!«
    Borken schüttelte den Kopf. »Dich kann nur noch Gott verstehen«, sagte er leise.
    Gerholdt sah in den grauschwarzen Himmel, unter dem der Schnee hing, der am Morgen die Erde, den Treck, die Straße einhüllen würde.
    »Ich fürchte, auch er versteht mich nicht –«
    Mit dem Gefühl, ein paar Minuten mit dem Ungeheuerlichsten seines Lebens gesprochen zu haben, ging Borken zu seinen Söhnen zurück. Seine Schritte knirschten durch den nächtlichen Schnee.
    Frank Gerholdt sah ihm nach, wie er sich an das kleine Feuer setzte und die Hände wärmte. Was weiß er, was in mir ist, dachte er. Was weiß er von meinem Leben, von meiner Schuld, von Rita, deren Leben mir über allem steht? Ich bin ja kein Mensch mehr … ich bin ja nur das fleischgewordene Schicksal meiner kleinen Rita, deren wahres Schicksal ich wegnahm … Damals … Wie lange ist es her? So lang, daß es wie eine Sage klingt, wenn man es erzählen würde. Vor langer, langer Zeit raubte einmal ein armer hungernder, verblendeter Mann ein kleines Kind aus einer schönen weißen Villa bei Blankenese …
    Eine Sage wie aus den Nebelfernen isländischer Barden.
    Er schreckte auf. Ritas Kopf schob sich an seiner Schulter empor. Ihre großen, blauen Augen sahen ihn ernst an. Augen wie Sterne, gläubig noch an den Wundern des Lebens.
    »Papi –«
    »Ja, Rita –«
    »Glaubst du, daß wir sterben müssen?«
    Es durchzog ihn wie ein Schlag. Er riß die Arme empor und schlang sie um den schmalen Körper. Er drückte ihn an sich und legte seinen Kopf auf ihre blonden, kalten, gefrorenen Haare.
    »Einmal sterben wir alle, Rita … Einmal – aber nicht hier, Rita! Nicht hier! Das verspreche ich dir bei deiner Mutter. Nicht hier! Wir kommen zurück an den Rhein –«
    Der Himmel, die Wolken öffneten sich. Lautlos fiel der Schnee auf das Land. Eine erstickende, sanfte, lautlose schreckliche Masse weißer wirbelnder Flocken.
    »Komm«, sagte Gerholdt und drückte Rita an sich. »Wir fahren weiter.«
    »Allein?«
    »Allein, Rita! Der Mensch ist am stärksten in der Einsamkeit. Denn nur dort darf er Mensch sein und keine Bestie –«
    In dieser Nacht verließ Frank Gerholdt mit seinem kleinen Bauernwagen den großen Treck und die breite Straße nach Westen. Er zog mit seinem müden Pferd und dem klappernden und schwankenden Gefährt über Waldwege und Wiesenpfade, durch Schnee, Eis und Kälte, über zugefrorene Bäche und Flüsse nach Westen. Einsam, ein schwarzer Punkt in der endlos scheinenden weißen Landschaft.
    Ein Mensch, der verbissen um das einzige kämpfte, was er bisher verachtet hatte – das Leben.
    Er sah den großen Treck nicht wieder. Er hörte nichts mehr von Peter Borken und seinen überlebenden neun Kühen, er hörte nichts mehr von den Tausenden Menschen, die er verließ, von den Hunderten Pferden und den vor Hunger und Kälte schreienden Kindern. Es war, als habe der Schnee sie alle zugedeckt, verschüttet, begraben unter einem weißen Berg glitzernder Kristalle, die im Mondlicht funkelten wie das Zauberreich eines Bergkönigs. Eine tödliche Schönheit …
    Niemand sah den Treck wieder.
    Im Frühjahr lediglich begrub eine russisch-polnische Aufräumungskompanie links und rechts der großen Straße in sieben Massengräbern einige Tausend erfrorene Männer, Frauen und Kinder. Die Pferde und die anderen aufgefundenen Tiere wurden in Waggons in eine Seifenfabrik geschafft. Darunter neun stattliche Kühe, um die man seitlich der Straße vier Männer liegend fand, die Pistolen noch in den erstarrten Fingern, als

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