Schicksal des Blutes
Amy seine Ungeduld und Anspannung spürte.
Aziza faltete die Finger, als wollte sie beten, senkte den Blick und sprach, als würde sie eben genau dies tun. Die ruhigen, melodischen Worte rieselten Amy in zarten Schaudern über die Haut. „Geboren 1211 in Somali, bedacht mit dem geweihten Namen Aziza Minkah, die kostbare Gerechtigkeit, durfte ich mich bereits 1270 mit meinem Seelenpartner Jitu Bavarro vereinen.“ Aziza seufzte leise. „Jitu war die Erfüllung meiner heimlichen Träume. Seine gläubige Familie verlieh ihm gewiss nicht ohne Grund den Namen Jitu, der Riese, denn seine Statur täuschte über seine Sanftheit und Besonnenheit hinweg.“ Ein feines Lächeln legte sich kurz auf Azizas Gesicht. Sie schien weit weg, in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. „Ny’lane, dein Großvater und Jitus Vater war ein weiser und liebenswürdiger Mann. Auch sein geweihter Name war mit Bedacht gewählt worden. Yohaness, Gottes Geschenk. Lauschte man der tiefen, ruhigen Stimme des geistlichen Würdenträgers, empfand man Liebe zum Herrn und Kraft, das eigene Leben zu meistern. Ein jeder fühlte sich in Yohaness Bavarros Nähe wohl.“
Aziza blickte auf und betrachtete ihren Sohn, der still dastand. Ihr ernster Blick kündigte die Wende an, nun kam das Böse, das Schreckliche.
„Ich war froh, Yohaness kennengelernt zu haben und seinen Segen für die Ehe mit seinem Sohn Jitu zu empfangen, denn 1303 verstarb er eines natürlichen Todes. Keine acht Jahre später, 1311, nahm man mir Jitu, meinen Mann, meine Seele, mein Leben. Ich erfuhr nie, wohin er ging oder was geschah.“
Amy holte wie Ny’lane tief Luft, doch sie sah regelrecht, wie sein Gehirn schneller alle Informationen zusammensetzte als ihres. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Vor Unglauben sprach sie aus, was sie dachte. „Jitu verschwand vor genau 700 Jahren und kam nie zurück?“
Aziza wandte ihr das starre und unendlich traurige Gesicht zu. Sie nickte.
„Dann ist er nicht mein Dad!“, donnerte Nyl plötzlich los.
Aziza hob beschwichtigend die Hand. „Das ist lange nicht alles, mein Sohn.“
„Wer verdammt noch mal ist mein verfluchter Vater? Du hast mich immer glauben lassen, dein Ehemann wäre verschwunden. Dabei bin ich ein elender Bastard!“ Nyl baute sich vor ihr auf.
Aziza zuckte mit keiner Wimper. „Jitu Bavarro ist dein Vater.“
„Wie …?“, hauchte Amy.
„Ny’lane, ich betrog weder deinen Vater noch dich. Sein Samen und dein Name entstammten beide von Jitu, der Liebe meines Lebens.“
Eine jungfräuliche Empfängnis, dachte Amy schockiert und schüttelte sich innerlich. An so etwas glaubte sie nicht. Dann musste es Magie sein. Zauberei, die über ihr beschränktes, menschliches Verständnis hinausging. Sie schien nicht allein mit ihrem Unglauben.
„So ein Schwachsinn!“, grollte Nyl und war im nächsten Moment aus dem Keller verschwunden.
Stille senkte sich über den Raum, über Amy. Sie kam sich fehl am Platz vor. Wer war sie schon? Eine Sterbliche mit gerade 28 Jahren. Bis sie sich vor einigen Tagen in Ny’lanes Erinnerungen verloren hatte, hatte sie geglaubt, durch ihren Job und ihre Neigungen viel von der Menschheit und den Mysterien des Lebens zu wissen, doch sie wusste gar nichts. Sie rutschte an die Kante des Sessels und nahm Azizas kühle Hand in ihre. „Es tut mir sehr leid um deinen Verlust.“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln begleitete die Traurigkeit in Azizas Gesicht. „Nur ein körperlicher Verlust, kein geistiger.“
„Jitu ist nicht … von uns gegangen?“, fragte Amy noch leiser.
„Das, meine Liebe, würde ich spüren“, erwiderte Aziza.
Ny’lane stand plötzlich wieder vor ihnen. „Wenn der Mistkerl nicht tot ist, wo ist er dann?“
Amy wollte Azizas Hand loslassen, aber Aziza hielt sie sanft fest, als brauchte sie ihre Nähe. „Das, mein lieber Sohn, versuche ich seit nunmehr 700 Jahren herauszufinden.“ Sie straffte die Schultern. „Die Projekte in Afrika sind nur ein Bruchteil dessen, was ich in meinem langen Leben unternommen habe, um Jitus Verschwinden aufzuklären. Eben das, was du in deinem Leben seit 1880 mitbekommen hast.“
Aziza ließ sie los und Amy sank zurück in ihren Sessel. Mannomann, wie sehr musste man lieben, um jemanden über eine derart lange Zeitspanne zu suchen, nichts unversucht zu lassen, um hinter das Geheimnis zu kommen, das einen Tag und Nacht, zu jeder Sekunde verfolgte … Nun ja, wäre sie ein Vampir, wäre sie vielleicht auch so. Sie
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