Schicksal des Blutes
musste in anderen Dimensionen denken, was sie sich glücklicherweise langsam aber stetig angeeignet hatte, seit sie Wesen jagte, seit sie einige persönlich kannte … mit denen sie sich verbunden fühlte. Jetzt mehr denn je.
Sie sah Aziza und Ny’lane an und entschied, ihnen zu helfen. „Aziza, bitte verzeih, wenn ich neugierig klinge. Weshalb hast du Jitu nur in Afrika gesucht?“
Ny’lane sah sie mit einer Mischung aus Zorn, Skepsis und Erstaunen an. Aziza lächelte, stand auf und durchschritt den langen Raum. Amy und Nyl folgten ihr bis zu einem verdeckten Pult. Die silbrigen Strähnen in Azizas schwarzem Haar leuchteten in dem dämmrigen Licht. Sie sah mit dem sanften Lächeln aus wie ein Engel. Amy zuckte über ihren Gedanken zusammen. Sie schaute verstohlen zu Ny’lane hinüber. ‚Silver Angel‘ … Ihr stockte der Atem, während unzählige Gedanken in ihrem Kopf umherwirbelten, die keinen Sinn ergaben. War Nyl der Sohn des gefallenen Engels? Ein Sohn von Nephilim? Nein, Blödsinn, Ny’lane war zu jung. Der Spitzname war sicherlich durch den Silberschein in seinen Augen zustande gekommen oder weil er auf einem auffälligen Schiff wohnte, das ‚Silver Angel‘ getauft worden war. Amy zwang ihre wirren Überlegungen in eine Ecke ihres Gehirns, als Aziza die Hand auf das undurchsichtige Tuch auf dem Pult legte.
„Am 3.5.1311, einen Tag vor Jitus Verschwinden, kam er so aufgeregt wie noch nie ins Haus gestürmt. Er zeigte mir ein bereits damals altes Manuskript, das er gefunden hatte, und dessen Inhalt ihn beunruhigte. Es war im Jahre 612 von seinem Vater Yohaness verfasst.“
Aziza zog langsam das Samttuch fort und beinahe hätte Amy laut geflucht. Sie konnte die verblasste, fremde Schrift nicht lesen, die auf einem beigebraunen Pergament geschrieben stand, das hinter dickem Glas aufbewahrt wurde.
Ny’lane beugte sich vor. „Warum weiß ich nichts davon?“, fragte er barsch.
„Weil du nie etwas wissen wolltest. Weil du nie hier warst, weil du dein eigenes Leben geführt hast und führen solltest, weit weg von meinen Sorgen. Du solltest dein Leben nicht für die Suche nach Jitu wegwerfen. Für mich ist ein Leben ohne ihn sinnlos, aber nicht für dich.“
Die Stille nagte an Amy schlimmer als jeder Fauxpas, deshalb sprach sie ihre Frage aus. „Was steht da?“
Nyl drehte sich zu ihr. Seine Augen mussten hinter der Sonnenbrille funkeln, denn sie nahm den zarten Schein wahr. Er blickte sie direkt an, sie spürte es. „Dort steht, im Jahre 611 stieg donnerndes Unheil vom Himmel herab, um die Sündigen zu bestrafen. Am ersten Tage des Unwetters entlarvte das Himmelsreich all die Sünder und am siebten Tage ruhte es nicht wie Gott, sondern kam über all diejenigen, die am Tage des Wortes frevelhaft gesündigt hatten, und verbannte sie in die ewige Verdammnis.“
Amy schwankte und wäre umgefallen, wenn Nyl sie nicht an den Oberarmen gepackt hätte. Er sah auf sie herab. „Dir kommt es also auch bekannt vor“, brummte er missmutig.
„611, 1311 und 2011. Alle 700 Jahre“, flüsterte Amy, doch das war es nicht, was sie beinahe hatte zusammenbrechen lassen. Wie eine Flutwelle überkam sie das Gefühl erneut, das sie vor einigen Tagen befallen hatte. Es war ein wundervolles, berauschendes Gefühl der Geborgenheit gewesen, aber ebenso der reinen Liebe, in deren Schoß sie sich hingebungsvoll begeben hatte, um sich darin zu verlieren. Ein erotisches Gefühl, das ihr nun alle Farbe aus dem Gesicht weichen ließ, weil es sie zu Tode erschreckte. Hatte sie am 1. Mai im Traum gesündigt? War sie eine von denen, der nach den sieben Tagen die ewige Verdammnis drohte? Sie fühlte, wie Ny’lane sie zum Sessel trug und ihr ein Glas an die Lippen hielt. Dankbar trank sie das kühle Wasser in kleinen Schlucken, bis sie ihre Glieder wieder spürte.
„Das erklärt nicht“, hörte sie Nyl rau nachhaken, „weshalb du nur in Afrika nach ihm gesucht hast.“
Auch Amy blickte Aziza an. Sie schien ein wenig verlegen.
„Jitu fand das Manuskript seines Vaters und brachte es zu mir, um es sicher aufzubewahren. Wir liebten uns in die Nacht meines Geburtstags hinein und währenddessen sagte er mir: „Ich bin der glücklichste Mann. Dein Herz ist mein Herz, mein Leben ist dein Leben. Du bist alles für mich und nun besitze ich den Schlüssel zum größten Schatz auf Erden. Afrika hält ihn in seinem Schoß, tief verborgen, und ich werde versuchen, gerecht zu walten.“
Augenblicklich fielen Amy Azizas Fragen
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