Schicksal des Blutes
Sache!
Ich hänge wie Spiderman an seinem Faden an meiner dicken Schere, die sich mühelos in einem Tau verkrallt hat. Von hier aus habe ich einen perfekten Blick durch ein niedliches Bullauge in das Schlafzimmer von Samanthas Hausboot. Nun ja, ich gebe es ungern zu, aber gewissermaßen bin ich schuld, in einem fetten, faulen Krebs gelandet zu sein. Normalerweise meide ich Küstenstreifen, doch der junge, unauffällige Mann eignete sich so gut, um in Sausalito herumzuspionieren und dann musste ich springen, weil man mich beim Klauen ertappte, und erwischte natürlich einen Wasserbewohner – Edward mit den Scherenhänden alias Edward oder Edwarduline, die Winterkrabbe. Da ich eine besonders große Schere besitze, bin ich wohl männlich, was früher mal verwirrend war, weil ich, wie du ja weißt, eigentlich weiblich bin. Aber inzwischen ist es mir egal, ich bin sozusagen bisexuell geworden. So, ähm … Wo war ich? Genau. Nach stundenlangem Geknutsche und schmalzigen Liebeserklärungen hat Timothy endlich ihren Slip zerrissen. Wenn ich könnte, würde ich Beifall klappern, aber dann würde ich ins Wasser stürzen. Ohhoho, blonde Härchen hat sie da unten. Ist ihre bordeauxrote Mähne also doch gefärbt. Du hast mich gerade nicht wirklich gefragt, was Sam und der Vampir da treiben, oder? Gut, gut. Ich bekam fast einen Schweißausbruch, obwohl ich nicht mal in der Nähe eines Kochtopfes bin. Können Krabben eigentlich … na, egal. Die Vereinigung der beiden steht kurz bevor. Im doppelten Sinn des Wortes. Ich hätte eine Kamera mitnehmen sollen, um es später bei YouTube … Donnerlittchen! Mann, ist die gelenkig. Nun weiß ich endlich, woher der Begriff Stielaugen machen kommt. Ich habe Augen auf Stielen. Also echt, das ist selbst für mich neu.
Keine Sorge, ich weiß genau, wo ich bin. Jetzt nämlich packt Sam ihn langsam aus. Mannomann, echt, ohne Neid, was sich da abzeichnet, muss ’ne Prachtgurke sein. Noch ein Stückchen weiter … ja …
Auaaa! Ein Drache landet auf mir, ergreift mich brutal an der Schere, reißt mich von dem Tau und flattert fort. Ich feuere einen Hagel meiner gesamten Schimpfwortpalette auf das Federvieh ab, doch es lässt nicht los. Ich pike mit meinen verbleibenden neun Beinen nach dem Schnabel der Möwe, aber ich habe keine Chance. Himmelkreuzdonnerwetter noch mal!
Nur noch vier Tage, bis Nephilim mir den wie auch immer geformten Arsch aufreißen wird, und ich hänge halb im gierigen Schlund einer verfressenen Möwe. Und das ohne einen Funken Magie. Mann, jetzt reicht’s mir langsam. Will mir denn keiner helfen? Du vielleicht? Toll! Suuuper Idee, einfach weiterzulesen, wo ich in Lebensgefahr schwebe. Wo will das Biest bloß hin? Nach Sibirien? Mir ist jetzt schon kalt hier oben. Ich brauch Handschuhe … Verdammt!
~ ~
Nyl ging, so gemächlich es seine Gemütsverfassung zuließ, durch den nächtlichen Garten. Der Mond beschien die hohen Bäume, nur selten verirrten sich weißblaue Strahlen durch das dichte Blattwerk bis zum Boden. Er vernahm das sanfte Rauschen der Blätter im Wind und weit entfernt die steten Wellen des Atlantiks. Seine Gedanken rasten und kamen immer wieder zu einem Konsens: „Das ist doch alles verdammter Bullshit!“ Bisher hatte er zwar kein Argument gefunden, das einem anderen in ihrer Erzählung widersprach, aber das hieß noch lange nicht, dass er im Traum empfangen worden war oder dass Jitu noch lebte. Wahrscheinlicher war, dass Aziza über die Jahrhunderte der Einsamkeit und des Schmerzes verrückt geworden war.
Leider gab es zwei Leute, deren Gedankengänge er nicht lesen konnte. Azizas und Timothys. Bestand da ein Zusammenhang? Bei Aziza verstand er das noch. Gleiche Gene oder so was. Sonst hätte er wohl schon vor Ewigkeiten erfahren, was in Mom vorging. Doch mit dem Halbblut Timothy, weiß, aus Frankreich, hatte er absolut nichts zu schaffen. Dessen Dad Zeemore war seit langem tot und er hatte ihn niemals kennengelernt. Und Timothys Mom Elena-Joyce saß in einer Klapse, weil sie sich der Sucht des Tribors leidenschaftlich hingegeben hatte. Sie war in die Finsternis abgeglitten. Warum zum Teufel gelang es ihm seit der Tauchaktion im Meer nicht mehr, in Timothys Gedanken einzudringen? Das machte ihn noch ganz verrückt!
Als seine Überlegungen ihn zu den heutigen Erkenntnissen führten, kehrte er auf der Stelle um. Bei allen Ungereimtheiten war das Manuskript und die Behauptung von seinem angeblichen Opa Yohaness wohl die
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