Schicksal des Blutes
durchschneiden, lag vor ihr. Sie hatte sich nur ein Frühlingskleid übergeworfen, in dem sie sich nun wie ein kleines Mädchen vorkam. Vorsichtig bewegte sie sich durch den düsteren Wald bis zum Holzzaun. Kaum hatte sie diesen erreicht, raschelte es neben ihr und Ny’lane stand keine Armlänge von ihr entfernt. Sein Blick glitt zu ihren Füßen, ihren Körper herauf und blieb an ihrem Gesicht hängen. Unwillkürlich hielt sie die Luft an.
Warum machte sie sich vor, der Kuss hätte nichts zu bedeuten gehabt? Sie konnte weder vor ihm noch vor ihren Gefühlen weglaufen. Der liebevolle Kerl, den sie eben im Traum beobachtet hatte, verbarg sich tief unter der harten, schützenden Schale. Das Erfüllen ihrer Wünsche, die Rettung der Fische, und seiner Mom zu Hilfe zu eilen bewies, Nyl hatte sich trotz seiner Sucht und seiner abweisenden Art eine gute Seele bewahrt.
Amy trat auf ihn zu, unterdrückte den Schmerz in den Füßen und fand sich kurz darauf in seinen Armen wieder. Er stand ganz still, sah im matten Mondschein auf sie herab.
„Aziza?“
„Ihr geht’s gut. War nicht das erste Mal.“
„Konkurrenz?“
„Neid, Missgunst, Rache. Es ist immer etwas anderes, aber dennoch das Gleiche. Hier.“
Amy lachte auf, als sie ihr Smartphone und ihr Portemonnaie in seiner Hand erkannte. „Oh, wunderbar. Danke! Du bist ein Schatz.“
Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht und er steckte beides zurück in die Hosentasche seiner Jeans.
Amy schluckte, aber sie musste es wissen. „Hat General Zahnlücke es überlebt?“
Nyl schnaufte abfällig. „Er hat ein paar neue und kann sich an nichts mehr erinnern, was uns alle betrifft.“
„Gut.“ Amy fühlte, es war nun an der Zeit, ihn zu fragen, was sie seit Tagen nicht losließ. Es passte zwar gerade nicht hierher, dennoch, sie kam eben gern aus dem Hinterhalt. „Nyl, weshalb verbindest du dich nicht mit einer Frau, um die Sucht loszuwerden?“
„Ich will mich nicht binden.“
„Ausrede.“
Er stieß ein Zischen aus.
„Stimmt doch. Also?“
Ny’lanes Blick richtete sich auf ihren Hals, seine Fänge ganz nah vor ihrem Gesicht. „Du bietest dich an?“
„Warum nicht?“
Nyl wandte den Kopf ab und fauchte. „Du hast keine Ahnung, was du da sagst, Frau! Wieso machst du das? Willst du immer noch den ‚Silver Angel‘ überführen?“
„Dann sag mir endlich den Grund, warum du dich quälst. Und warum du anderen vormachst, es würde dich nicht quälen“, beharrte Amy mit galoppierendem Puls.
Ny’lane sah sie wieder an, seine Lider senkten sich bis zur Hälfte hinab. Er strahlte eine Leidenschaft aus, die ihr kribbelnd über die Haut kroch und sich warm ausbreitete. „Was hast du eigentlich mitten in der Nacht vor meiner Schlafzimmertür gemacht?“
Er wich der Frage aus. Ziemlich geschickt. Beinahe hätte Amy ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf gelassen und laut aufgestöhnt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie vor seiner Tür gestanden hatte. Amy entschied, ihm die Wahrheit zu sagen. „Ich habe von dir geträumt.“ Ny’lanes Blick war bei dem diffusen Licht schwer zu deuten. Überraschung spiegelte sich, Wut, Angst und ein tiefes Begehren. Erst jetzt fiel es ihr schlagartig auf. „Du trägst keine Brille.“
„Nie, wenn ich schlafe.“
„Du hast geschlafen? Ich dachte, also Jonas meinte, ihr würdet …“
„Ungern. Selten. In letzter Zeit häufiger“, murmelte er. „Was hast du geträumt?“
„Du hast Elisabeth nicht getötet.“
„Du bist also tatsächlich in meine Gedanken eingedrungen“, sagte er gefasster, als Amy erwartet hatte. „Nun gut. Nicht mit meinen eigenen Händen oder Zähnen, falls du das meinst. Dennoch brachte ich sie um.“
„Weil du sie geliebt hast … Weil du bei ihr sein wolltest. Aber wie?“
„Weil ich die Beziehung niemals hätte eingehen dürfen. Weil ich ihr niemals mein Blut hätte geben dürfen. Weil ich sie allein durch meine Hautfarbe in Lebensgefahr gebracht habe.“
Er sprach die Wahrheit. Sie hatte vermutet, er würde alles abstreiten, weitere Lügen auftischen. Nun war sie wohl an der Reihe, die Karten auf den Tisch zu legen. „Ich weiß, mein Urururgroßvater war der Bruder eines späteren Führers des Klans und Elisabeth Evans seine Tochter.“
Ny’lane versteifte sich. Seine Muskeln drückten sich in ihre Kniekehlen und um ihren Oberarm, während er aussah, als wäre ihm furchtbar schlecht oder als würde er, ohne sich zu rühren, ersticken. Seine Stimme klang rau vor
Weitere Kostenlose Bücher