Schicksal in seiner Hand
sich selbst, wie ruhig seine Stimme klang. »Erstens, weil ich es Ihnen sage und hier der zuständige Arzt bin, und zweitens, weil es die Hygiene erfordert. Wenn Sie mit Ihren Fingern jetzt diesen vereiterten Verband abnehmen …«
Er löste mit einer Pinzette vorsichtig das Pflaster und hielt es dem Pfleger unter die Nase.
»… dann bleiben unzählige Bakterien an Ihren Händen kleben. Dem nächsten Patienten, der vielleicht eine saubere Wunde hat, vermachen Sie wahrscheinlich dieses gefährliche Erbe. Der arme Mensch bekommt eine böse Eiterung, und niemand weiß woher.«
»Ja, aber … heute verbinden wir doch nur schmutzige Fälle«, verteidigte sich der Pfleger hartnäckig. »Morgen kommen dann die sauberen dran.«
»Bakterien bleiben wochenlang auf der Haut liegen. Und die Bakterien, die Sie heute möglicherweise aufgenommen haben, sind morgen noch genauso ansteckend.«
»Das stimmt!« pflichtete ein junger Patient zaghaft bei. »Ich hatte zunächst nur eine unbedeutende Schnittwunde an der Hand. Der Pfleger hat sie mir verbunden. Ein paar Tage später eiterte alles! Das geht hier aber jedem so.« Er schaute sich beifallheischend unter seinen Leidensgenossen um. »Deshalb kommt man auch so ungern in die Poliklinik.«
Thomas Bruckner überhörte diesen Einwand bewußt. Er ging von einem Kranken zum anderen, besah sich die Wunden und ordnete an, was gemacht werden mußte.
»Die Nächsten, bitte«, sagte er schließlich. Dann schaute er sich suchend um. »Gibt es hier keine spanischen Wände?«
»Doch«, versicherte ›Herkules‹ eifrig. Er hielt es mittlerweile für ratsamer, sich mit dem ›Neuen‹ zu vertragen. »Wir haben sie weggestellt. Sie wurden so leicht schmutzig und mußten dauernd gesäubert werden.«
»Ich denke, wir holen sie mal wieder vor. Verschiedene Patienten mögen es nicht, in Gegenwart unbekannter Dritter behandelt zu werden.«
Der Pfleger machte ein betretenes Gesicht. »Schwester Euphrosine hat die spanischen Wände eingeschlossen.«
Dr. Bruckner wandte sich um. Er wollte die widerspenstige Schwester zur Rede stellen, aber diese war längst verschwunden …
Der alte Professor war, ohne lange zu überlegen, mit dem inhaltsschweren braunen Kuvert in der Hand wieder zu der Bank im Englischen Garten zurückgekehrt. Schwerfällig ließ er sich darauf nieder.
Er war allein.
Wieder mußte er eine Tablette nehmen, um die erneut einsetzenden heftigen Schmerzen zu unterdrücken.
Mit einer hastigen Bewegung riß Bergmann den Umschlag auf. Endlich, endlich war es soweit! Endlich sollte er Gewißheit erlangen, Gewißheit über sein künftiges Schicksal …
Er nahm die Aufnahmen heraus und hielt sie gegen den azurblauen Himmel. Vor innerer Erregung vergaß er sekundenlang zu atmen. Er starrte auf die Bilder und – sank dann langsam in sich zusammen.
Die Fotos zeigten eine verblüffende Ähnlichkeit mit jenen Aufnahmen, die sein neuer Assistent gestern unter der Lupe studiert hatte. Bruckners Diagnose dröhnte plötzlich in seinen Ohren.
»Stenosierendes Karzinom am Magenausgang!«
Verzweifelt stöhnte er und griff sich an den Kopf. Das bedeutete unwiderruflich sein Todesurteil, wenn nicht … Vielleicht war es doch nur ein Geschwür, dessen Narbenmassen den Magenausgang völlig zugemauert hatten. Vielleicht …
Er mußte dazu den Befund Dr. Schneiders kennen.
Nervös fingerte der alte Professor nach dem Begleitschreiben. Er entfaltete den Briefbogen und versuchte zu lesen. Aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen auf und ab. Natürlich, er hatte seine Brille vergessen!
Erneut durchwühlte er seine Taschen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Endlich hielt er die Brille in den Händen.
Und dann las er die wenigen Zeilen … einmal … zweimal …
»Na?«
Professor Bergmann blickte hoch. Der zahnlose Alte stand wieder vor ihm. Er grinste vertraulich, schob kurzerhand das braune Kuvert, die Fotos und den Brief beiseite und setzte sich.
»Ich wußte, daß Sie wiederkommen.« Er holte eine Blechbüchse hervor und biß von dem Priem in der Schachtel ein Stück ab. »Wie war es denn beim Arzt? Schlimme Sache?«
Schweigen.
Schließlich konnte der Alte seine Neugierde nicht mehr bezähmen. Hastig griff er nach den Röntgenaufnahmen und hielt sie gegen das Licht. Genießerisch fuhr seine Zungenspitze über die Lippen.
Dann entfaltete er das Schreiben, holte eine verbogene Nikkeibrille aus der Tasche und hielt sie sich vor die Augen. Die Brille hatte nur noch
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