Schicksal!
Rotz quer über mich.
Anscheinend habe ich nur einen ganz gewöhnlichen Schnupfen, aber mir kommt es so vor, als würde ich sterben. Ich kann nicht atmen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Beton gefüllt, der langsam aushärtet und mir den Schädel sprengt. Und mein Hals ist so wund, dass ich nicht essen kann.
Die Freiwilligen in der Notunterkunft betreuen mich medizinisch, indem sie mich mit Flüssigkeiten vollpumpen und mich dazu bringen, diesen ekelhaft schmeckenden Sirup zu schlucken. Aber die Tatsache, dass sie sich für mich interessieren, dass sie sich um Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und medizinische Hilfe für jemanden kümmern, den sie gerade erst getroffen haben, erfüllt mich mit Dankbarkeit. Mit Hoffnung. Und ich frage mich, ob sich meine Menschen so gefühlt haben, nachdem ich ihnen geholfen hatte.
Vielleicht ist es das, was das Menschsein ausmacht. Sich mit anderen zusammenzutun. Ein Gefühl von Kameradschaft zu vermitteln. Die Erfahrung des Lebens miteinander zu teilen, statt seine Erfolge zu horten oder sich allein abzurackern.
Vielleicht haben wir alle etwas beizusteuern.
Also entschließe ich mich ein paar Tage später – ich fühle mich mittlerweile so gut, dass ich in Erwägung ziehe, vielleicht doch nicht sterben zu müssen –, wieder damit anzufangen, meinen Menschen zu helfen. Auch wenn ich nicht mehr
Schicksal
bin, sehe ich sie immer noch als die Meinen an. Aber anstatt den Serieneinkäufern, den Konsumsüchtigen und den Kreditkartenjunkies zu helfen, die die Malls, Einkaufszentren und Kaufhäuser bevölkern, konzentriere ich mich auf die Obdachlosen, die die Notunterkunft und die Straßen mit mir teilen. Und nebenbei bemerkt: Ich bin schon aus Macy’s rausgeflogen, bevor ich es bis zur Hauswarenabteilung geschafft hatte.
Ja, es stimmt: Ich kann die Pfade meiner Menschen nicht mehr sehen. Ich kann nicht sehen, welche Entscheidungen sie getroffen haben, warum sie hier gelandet sind oder welche Entscheidungen sie morgen treffen werden. Ich kann ihre Fehler oder Sünden oder Verhaltensmuster nicht sehen. Doch mir wird klar, dass das keine Rolle spielt. Ich muss nicht die Vergangenheit von jemandem kennen, um ihm Mut für die Zukunft zu machen.
Ich muss nicht wissen, wieso jemand hungrig ist, um ihm etwas zu essen zu besorgen.
Ich muss nicht wissen, wieso jemandem kalt ist, um ihn zu wärmen.
Ich muss nicht wissen, wieso jemand deprimiert ist, um ihm Hoffnung zu geben.
Also sage ich dem jungen, obdachlosen Mann, der auf dem Feldbett neben mir schläft, dass sich die Dinge ändern werden, wenn er nur an sich glaubt.
Ich helfe einer Frau mittleren Alters, die ich im Tompkins Square Park treffe und die seit zwei Tagen nichts gegessen hat, eine warme Mahlzeit zu bekommen.
Ich gebe einem obdachlosen Kind, das im Schnee vor McDonald’s auf dem Broadway bettelt, meine Handschuhe.
Im Verlauf der nächsten Woche biete ich meinen Menschen Hilfe, Rat und Vorschläge an, aber ich kann nicht sagen, welchen Effekt das auf sie hat oder ob ich sie wirklich langfristig erreiche. Es fühlt sich seltsam an, nicht zu wissen, wo meine Menschen waren und wo sie hingehen. Nicht zu wissen, ob ich ihnen tatsächlich geholfen habe, ihren Weg hin zu einem besseren Pfad zu finden. Aber je mehr ich ihnen helfe, umso besser fühle ich mich selbst. Je mehr ich ihnen helfe, umso mehr fühlt es sich an, als würde ich etwas Richtiges tun und meinen eigenen optimalen Pfad finden. Umso mehr fühlt es sich an, als würde ich wieder etwas zählen und als hätte ich einen Platz in der Welt.
Und ich denke, dass dieses Sterblichkeitsding vielleicht doch nicht so übel ist.
Eines Tages sitze ich dann auf einer Bank auf der Bethesda Terrace, esse einen Hotdog, sehe einem Straßenkünstler zu, der Zaubertricks gegen Geld vorführt, und frage mich, ob ich vielleicht meinen Lebensunterhalt damit verdienen könnte, dass ich den Leuten ihre Zukunft aus der Hand deute. Da setzt sich
Bestimmung
neben mich.
»Ich habe diesen Ort immer gemocht«, sagt sie. »Erinnerst du dich, wie wir Noncontact-Sex in dem Springbrunnen hatten?«
Mit einem Mal habe ich den Appetit verloren.
Bestimmung
trägt eine rote Sonnenbrille, einen roten Seidenpullover, rote Leggings und rote wadenhohe Stiefel, während ich eine Skimütze aus Wolle, ein Sweatshirt, eine Regenjacke, gebrauchte Khakihosen, lange Unterhosen, zwei Paar Socken und Sneakers anhabe.
»Bist du hier, um dich an meinem Unglück zu weiden?«, frage ich.
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