Schicksal!
treten in den weißen Schein der Natriumlampen hinein und wieder heraus. Sie alle versuchen, dem wie wahnsinnig lachenden Mann, der ihnen auf dem Bürgersteig entgegenkommt, möglichst weiträumig auszuweichen.
Ab und zu halte ich an einer Straßenecke inne und schreie es für jeden heraus, der es hören oder nicht hören will: dass ich einst
Schicksal
war. Dass ich unsterblich war. Dass ich die Pfade ihrer Leben kannte und mich um sie sorgte.
Niemand hört zu. Niemanden interessiert es. Niemand glaubt mir. Wieso sollten sie auch? Schließlich bin ich ja nicht mehr
Schicksal.
Ich bin nur Sergio. Sergio Delucci. Ein Mensch mit einem falschen Namen, einer gefälschten Vergangenheit, keinen Freunden und einer Adresse im Central Park.
Nachdem ich mir eine Tasse Kaffee und ein paar Kleinigkeiten aus dem Ein-Dollar-Angebot bei McDonald’s geholt habe, gehe ich in den Central Park, komme am Zoo und an der Mall vorbei und finde schließlich ein nettes kleines Plätzchen abseits vom Weg. Im buschartigen Teil des Parks, dem sogenannten Ramble, bin ich vor Blicken geschützt, und der Rasen ist trocken. Hier rolle ich meinen Schlafsack aus, setze mich darauf und trinke meinen Kaffee. Ich esse meinen doppelten Cheeseburger mit Pommes und frage mich, was ich tun soll. Wohin ich mich wenden soll. Wie ich bloß zulassen konnte, dass ich in dieser Scheiße gelandet bin.
Wie auch immer ich es mir früher ausgemalt habe, wie es wohl wäre, wenn ich meine Unsterblichkeit verlieren würde: So hatte ich es mir mit Sicherheit nicht vorgestellt.
51
A m Morgen nach meiner ersten Übernachtung unter freiem Himmel sitze ich auf einer Bank im Central Park. Gerade frage ich mich, ob es wohl als Stalking angesehen wird, wenn ich obdachlos hier im Freien lebe und zufällig Sara vorbeijoggt, als mich eine Obdachlose anspricht, die einen zweirädrigen Karren hinter sich herzieht und ungefähr fünf Lagen Kleidung plus einer pinken Strickmütze trägt. Zuerst glaube ich, sie will mich um Geld bitten, bis sie sich neben mich setzt und sagt: »Du bist neu, oder?«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie damit meint, dass ich obdachlos oder dass ich sterblich bin, aber das spielt vermutlich keine Rolle. »Woran erkennst du das?«
»Ich erkenne die Neuen immer«, meint sie und nickt.
Ich schaue sie mir an, ihre Kleidungsschichten und ihr drahtiges Haar, das unter der pinken Wollmütze hervorlugt, und ich überlege, wie lange sie wohl schon auf der Straße ist.
»Hast du im Park geschlafen?«, fragt sie.
»Nur letzte Nacht«, antworte ich. »Geschlafen hab ich aber nicht viel.«
Sie nickt. »Schwer, im Park ein Auge zuzukriegen. Und es ist nicht immer sicher. Du solltest dir was anderes, was Sichereres suchen.«
Ich warte darauf, dass sie mir verrät, wo dieser andere Ort sein könnte – vielleicht im Plaza oder im Four Seasons oder im Trump Tower. Aber sie bleibt einfach sitzen, lächelt und nickt und wippt im Rhythmus ihres persönlichen inneren Schlagzeugers vor und zurück.
Schließlich steht sie auf und geht weiter, zieht den Wagen mit ihren Habseligkeiten hinter sich her. Dann hält sie an und dreht sich zu mir um. »Komm schon«, ruft sie mir zu. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Nach einem Moment des Zögerns erhebe ich mich und folge ihr durch den Park und auf die Fifth Avenue zu.
»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagen würde, dass ich mal unsterblich gewesen bin?«, frage ich.
Sie schaut mich an, lächelt und nickt. »Das waren wir alle mal.«
Ihr Name ist Mona, kurz für Ramona, und sie bringt mich zu einer Notunterkunft an der East 77 th – eine soziale Anlaufstelle, die siebzehn Blocks von meinem alten Apartment entfernt liegt. Hier bekomme ich eine heiße Mahlzeit und Hilfe bei der Suche nach einem sicheren Schlafplatz.
Und meine erste Erkältung.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie mir eingefangen habe, als Mona mich umarmt hat. Oder als Paul, der Obdachlose, der neben mir gesessen hat, auf mein Fleisch und das Kartoffelpüree geniest hat. Oder als ich auf einem Feldbett in einer unbelüfteten Unterkunft mit ungefähr hundert anderen Obdachlosen gelegen habe, von denen die Hälfte die ganze Nacht lang gehustet hat. Aber als ich zwei Tage später aufwache, habe ich dieses komische Gefühl in meinem Hals. Als wäre er irgendwie beschichtet. Wenn ich mich aufsetze, fühlt sich mein Kopf an, als wäre er voller Sand. Dann beginnt meine Nase zu jucken, und ehe ich michs versehe, niese ich und verteile Speichel und
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