Schicksalsfäden
schließe daraus, dass alles vorbei ist?«
»Ja, es ist vorbei. Der Mann, der mich töten wollte, sitzt in einer Zelle auf dem Bow-Street-Revier. Er war ein Bow-Street-Runner und Lord Lane hatte ihn angeheuert um sich an mir … also eigentlich an dir zu rächen.«
»Mein Gott! Wie hieß der Runner?«
Victoria begann zu erzählen. Wenn die Erinnerung zu schmerzhaft wurde, stockte sie, aber Vivien ermutigte sie immer wieder, alles loszuwerden. Victoria bemerkte erleichtert, dass ihre Schwester keine Freude über den Tod von Lord Lane zu empfinden schien.
»Wenigstens ist er jetzt bei seinem Sohn«, sagte sie nur. »Mögen sie in Frieden ruhen.« Düstere Gedanken umwölkten ihre schöne Stirn. »Weißt du, Lord Lane und sein Sohn waren beide sehr unglückliche Menschen.
Besonders Harry. Ich dachte, unsere Affäre würde ihm ein wenig Freude am Leben geben, aber er wollte alles von mir. Er konnte nicht verstehen, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein konnte. Vielleicht hatte Lord Lane ja sogar Recht vielleicht wäre Harry noch am Leben, wenn wir uns nicht begegnet wären.«
»Und vielleicht hätte er sich trotzdem das Leben genommen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, Vivien. Darum mach dir keine Vorwürfe.« Trotzdem war Victoria in diesem Moment froh über Viviens schlechtes Gewissen. Es bestätigte ihr, was sie schon immer wusste. Dass Vivien eben keine eiskalte, berechnende Frau war, die über die Gefühle anderer Menschen nur lachen konnte. »Aber eines musst du mir versprechen, Vivien«, fuhr Victoria fort.
»Lass die Finger von Harrys Sohn.«
»Versprochen«, sagte ihre Schwester. »Ansonsten würde mich Lord Lane wahrscheinlich noch aus seinem Grab heraus verfolgen. Obwohl mir durchaus etwas an ihm liegt, Schwesterchen. Er ist sensibel und so ernsthaft. Und er liebt mich wirklich, was noch nie ein Mann, schon gar keiner von Stand, von sich behauptet hätte. Heute weiß ich, dass es falsch war, mich mit ihm einzulassen, aber eine Zeit lang hing ich wirklich an ihm. Verstehst du das?«
Victoria nahm die Hand ihrer Schwester, die plötzlich sehr traurig wirkte, und drückte sie kräftig. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie leise. »Ich hoffe, du bleibst bei mir. Ich möchte gern für dich da sein, bis das Baby kommt.«
Ohne aufzublicken schüttelte Vivien den Kopf. »Ich werde nach Italien gehen, denke ich. Ein bisschen Abwechslung wird mir gut tun. Ich habe dort viele Freunde … und einen ganz speziellen Freund, der schon seit Jahren hinter mir her ist. Und er ist reich wie Krösus.« Sie sah Victoria mit einem schelmischen Grinsen an. »Ich denke, seine Chance ist gekommen.«
»Aber du kannst doch nicht einfach so weitermachen wie bisher? Und da ist ja auch noch das Kind …«
»Natürlich kann ich das! Wenn das Kind geboren ist und ich meine alte Figur wiederhabe, suche ich mir einen neuen Beschützer und arrangiere irgendwas für das Kind. Ich werde nicht zulassen, dass es darunter leidet, Schwesterchen, keine Sorge. Außerdem habe ich ja genug Bedienstete, die sich darum kümmern können.«
Victoria wusste nicht, wie sie ihrer grenzenlosen Enttäuschung Ausdruck verleihen sollte. Sie hatte so sehr gehofft, dass auch ihre Schwester etwas aus den letzten Wochen gelernt hätte, aber es schien nicht so. »Hast du dieses Leben denn nicht satt? Wir können doch etwas anderes für dich finden, Victoria. Mr. Morgan und ich würden dich dabei unterstützen, so gut wir könnten.«
»Ich finde die Dinge gut so, wie sie sind«, sagte Vivien ganz offen. »Ich bin gern eine Prostituierte, Schwesterchen.
Es macht Spaß, es ist nicht schwer und dabei sehr einträglich. Warum soll ich einen Beruf, in dem ich so erfolgreich bin, einfach aufgeben? Und komm mir jetzt bitte nicht mit Moral und Ehre und dergleichen. Ich glaube, wenn man eine Sache gut macht, dann ist das ehrenhaft, egal, um was für eine Sache es sich handelt.«
Victoria schüttelte nur den Kopf. »Oh, Victoria …«
»Genug jetzt! Ich habe mich entschieden, nach Italien zu gehen, und dabei bleibt’s.«
»Aber bitte versprich mir etwas: wenn du das Kind nicht mehr willst, wenn es dir im Weg ist, gib es nicht irgendeinem Hausmädchen, sondern schick es zu mir. Dann wächst es wenigstens bei seiner Tante auf.«
Vivien sah ihre Schwester zweifelnd an. »Merkwürdig. Warum interessierst du dich so für Lord Gerards Bastard?«
»Dieser ›Bastard‹ ist dein Kind und meine Nichte oder mein, Neffe. Versprich es mir«, sagte
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