Schicksalspfad Roman
einen Moment und sagte dann: »Das Manuskript ist sowieso Scheiße«, und schleuderte es so heftig von sich, dass die Blätter hochflatterten. Es schlug gegen die Jalousie, verbog ein paar Lamellen und fiel auf den Boden.
Grace sah Matt an. Er legte die Hand über die Augen.
»Es tut mir leid«, murmelte er.
Am folgenden Abend kam Wade Conner vorbei und blieb eine halbe Stunde bei seinem Sohn. Nachdem er gegangen war, setzte Grace sich ans Fußende und massierte Matts Füsse. Das war ein kleines Geschenk, das sie den Patienten zukommen ließ, die sie gern mochte.
»Ihr Vater ist sehr nett«, sagte sie.
»Er hat ein gutes Herz«, erwiderte Matt diplomatisch.
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte Grace. Sie wollte, dass Matt redete, dass er seine verbalen Muskeln wieder trainierte. Aber sie hörte auch gern seine Stimme, die irgendwie rührend weich, demütig und klein klang. Sie erinnerte sich an die Angst in Garys Stimme in bestimmten Momenten, wie dies eine Menschlichkeit offenbarte, die so zerbrechlich und kostbar war wie nichts zuvor in ihrem Leben. Dadurch, dass sie sich zugestanden hatte, das volle Ausmaß an Schmerz bei Garys Tod zu empfinden, hatte sie für die übrigen Patienten nur wenig Mitgefühl übrig. Gary war zum Auffangbecken für all ihre angestauten Emotionen geworden, die sie im Verlaufe ihrer Karriere als Schwester aufgestaut hatte. Sie hatte sein Gesicht mit den Händen gehalten und ihm gesagt, dass sie ihn nicht verlassen würde. Sie hatte die Erleichterung in seinen Zügen gesehen und wie er daraufhin einschlafen konnte. Sie hatte ihn mit ihrer ganzen Kraft getröstet und war nach seinem Tod immun gegenüber den tagtäglichen Tragödien anderer geworden.
»Er hat ein gutes Herz, das ist alles«, sagte Matt. »Sie versuchen ja bloß, mich zum Reden zu bringen.«
Grace lächelte. »Nur, damit es Ihnen wieder besser geht«, sagte sie. Sie hatte sich kurz mit Matts Sprachtherapeut unterhalten, einem jungen Haitianer namens
Noel, der Grace in seinem netten Akzent versichert hatte, am besten für Matt sei es, wenn er ständig sprach und zuhörte. Der Patient, hatte Noel gesagt, müsse wieder mit Sprache »angefüllt« werden.
»Mein Dad hat mich allein großgezogen«, sagte Matt, als wäre er nun einverstanden mit der therapeutischen Künstlichkeit dieser Unterhaltung. »Meine Mum starb, als ich dreizehn war, daher waren Wade und ich allein. Das war nicht leicht für ihn. Er hatte ja keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Das war immer Mums …«
»… Job?«
»Nein.«
»Mums Stärke? Ihre Abteilung?«
»Ihre Abteilung?«, fragte Matt.
»Sie wissen, ihr Bereich.«
»Ja. Sie war der bessere Elternteil.«
»Was geschah dann?«
»Was geschah …«, erwiderte Matt langsam, »… er hat mich zu seiner Schwester geschickt.«
»Ihrer Tante?«
Matt nickte.
»Wissen Sie ihren Namen?«, fragte Grace.
Matt biss sich auf die Lippe. Ohne nachzudenken streckte Grace die Hand aus und legte sie auf seine.
»Ist schon gut«, sagte sie. »Das fällt Ihnen wieder ein.« Matt seufzte. »Ich hatte jedenfalls Glück. Sie war gut zu mir. Sie war Lehrerin.«
»Sie mochten sie gern?«
»Ja, ich mochte sie. Sie ließ mir vieles durchgehen.«
»Sie haben sie sicherlich mit Ihrem Charme bezaubert«, meinte Grace wissend.
»Wie bitte?«
»Ich bin sicher, sie hat Sie angebetet.«
Matt nickte, aber Grace sah, dass er die Konzentration verlor. Er fühlte sich entmutigt.
Dann sagte er: »Erzählen Sie mir von sich.«
»Von mir?«, fragte Grace. »Was wollen Sie denn wissen?«
Matt dachte einen Moment nach. »Haben Sie einen … einen …«
»Einen was?«
Matt schüttelte den Kopf, weil ihm das Wort nicht einfiel. Schließlich sagte er: »Haben Sie einen … einen Menschen?«
Grace vermutete, er meinte einen Ehemann oder Freund, aber Mensch reichte völlig aus. Die Frage war ihr peinlich, doch sie versuchte das nicht zu zeigen. Sie war seine Pflegerin, eine Autoritätsfigur, und ihre Professionalität verbot ihr, allzu persönlich zu werden. Falls man zu viel von sich preisgab, verlor man die Bereitschaft des Patienten zur Mitarbeit und vielleicht sogar das Vertrauen.
»Ich lebe gerne allein«, brachte Grace selbstbewusst heraus, und sie sah, dass Matt ihre Worte verstand, obwohl er vermutlich noch nie einer Frau begegnet war, die etwas anderes als äußerste Bereitschaft gezeigt hatte, ihr ganzes Leben für ihn hinzuwerfen, nur um mit ihm zusammen zu sein. Er schien Grace’ offensichtlichen
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