Schicksalspfade
leiden würde.
Selbst die umfassende, grenzenlose Vergebung seiner Mutter konnte diese Bürde nicht lindern.
Eine Zeit lang ließ er sich treiben. Seit langem war er an die unendlichen Weiten des Alls gewöhnt und jetzt entdeckte er die Unermesslichkeit der Erde. Er beamte sich zu Orten, deren Namen er überhaupt nicht kannte und die er nie hatte besuchen wollen: Bamako… Mopti… Ende… Telde… Gleichgültig
betrachtete er Felswohnungen an einem hohen Sandstein-Steilhang, Behausungen, die über tausendfünfhundert Jahre hinweg benutzt worden waren. Pulsierendes Wüstenleben umgab ihn mit einer kakophonischen Symphonie: das
Schlagen einer rituellen Trommel, weinende Säuglinge, ein schreiender Esel, die lauten Stimmen der miteinander
diskutierenden Ältesten, Gelächter, die seltsamen, melodischen Töne einer hölzernen Pfeife. Es war eine magische Mischung, historisch und vital, aber Tom fand nichts Bemerkenswertes darin und setzte seine Reise fort.
Ihlara in der Türkei… das Peristrema-Tal mit byzantinischen Höhlenkirchen, darin alte Fresken von Heiligen und religiösen Gestalten, ein sakraler Ort, der an die ferne Vergangenheit erinnerte. Tom sah ihn sich an, ohne etwas zu sehen.
Lahore und der berühmte Shalimargarten… Katmandu und
der Tempel von Pashupatinath, Shiva gewidmet, dem Gott der Schöpfung und der Vernichtung… Songpan und das Habitat, in dem vor dreihundert Jahren die Riesenpandas vor dem Aussterben bewahrt worden waren. Inzwischen hatte sich ihre Population gut erholt und die Tiere erfreuten sich ihres Lebens.
Tom beobachtete sie und versuchte, sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken zu lassen, aber die dunkle Leere in ihm lichtete und füllte sich nicht.
Nichts berührte ihn. Weiter ging es: Tobago… Petra…
Turnapuna… Baruta… Caesarea… Beausoleil… Göteborg…
Alicante… Skopje… Er begegnete Gemeinschaften, die er sich nie hätte vorstellen können, Enklaven kultureller Vielfalt, Dörfer, deren Bewohner die Rituale und Traditionen ihrer Vergangenheit bewahrt hatten. Er besuchte überfüllte Märkte und in einigen von ihnen sah er etwas, das tatsächlich Interesse in ihm weckte: Fleisch. Die zur Schau gestellten Keulen, Schulterstücke und Rippen erinnerten ihn daran, dass es auf der Erde noch immer Orte gab, wo man auf die Jagd ging und Menschen kein repliziertes Fleisch aßen, sondern echtes. Bei diesem Gedanken wurde ihm übel und er ging rasch weiter, erneut in Taubheit gehüllt.
Anschließend verschwand sein Appetit ebenso wie die
Gefühle, und er musste sich zwingen, etwas zu essen. Er nahm rasch ab, wirkte dadurch ausgemergelt und hohlwangig. Damit einher ging eine gewisse geistige Erleichterung. Die neue, schlankere Person schien keine so schwere Last mehr zu tragen, aber sie war auch müder, ausgelaugter. Tom begann damit, länger zu schlafen, blieb manchmal den ganzen Tag im Bett. Er stellte fest, dass Alkohol unmittelbar nach dem Erwachen ihm neue Kraft gab, zumindest vorübergehend, und deshalb wurde aus dem Drink am Morgen ein Ritual.
Er kam nicht einmal in die Nähe von Nordamerika und
kommunizierte nur mit seiner Mutter. Manchmal schickte er ihr kurze Mitteilungen, in denen er einen baldigen Besuch ankündigte und versicherte, dass es ihm gut ging.
Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Oft wusste er nicht, ob Tage, Wochen oder Monate vergangen waren. Haltlos, ohne Wurzeln und stumpfsinnig verbrachte er diese Phase seines Lebens.
Später fragte er sich, welcher Instinkt ihn dorthin
zurückführte, wo er fast ein Jahr verbracht hatte, aber zu jenem Zeitpunkt war er sich der Situation nicht bewusst genug, um über seine Motive nachzudenken. Der Ort erschien ihm so gut wie jeder andere und deshalb kehrte er nach Marseilles zurück.
Eine Frau, deren Namen Tom bereits vergessen hatte, schlang ihm die Arme um den Hals und murmelte ihm etwas ins Ohr.
Es war kein besonders erotisches Gefühl, aber auch kein unangenehmes. Er erlaubte es ihr, sich an ihn zu schmiegen, während er an seinem Drink nippte und den Mann beobachtete, gegen den er spielte.
Es handelte sich um einen blauhäutigen Bolianer, der beim Billard erstaunliches Geschick zeigte. An seinen Namen erinnerte sich Tom ebenso wenig wie an den der Frau. Vage dachte er daran, dass Herausforderungen ihn früher einmal belebt hatten, einen Adrenalinschub auslösten und bewirkten, dass er sich ganz darauf konzentrierte, den Gegner zu schlagen. Doch das war vor langer Zeit gewesen und die Erinnerungen
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