Schicksalspfade
nicht verletzen wird.«
Der Blick ihrer schwarzen Augen brannte sich in ihn hinein.
»Du leidest sehr daran«, sagte Lissine. »Ich muss dich warnen: Nach dieser Erfahrung fällt es dir vielleicht nicht mehr so leicht wie vorher, dich vor dem Dunklen in dir zu schützen.«
Eine kalte Lanze der Furcht durchbohrte Toms Herz. Was bedeuteten diese Worte? Musste er damit rechnen, dass sein schreckliches Geheimnis jetzt wie der Kopf einer Schlange nach oben kam, zum Zubeißen bereit? In seiner Magengrube krampfte sich etwas zusammen und Übelkeit stieg in ihm empor. Er konnte nicht mehr sprechen.
»Wenn du gestattest… Vielleicht bin ich imstande, dir zu helfen. Aber zuerst müssen wir darüber reden.« Die Stimme war warm und voller Anteilnahme, bot ihm Freundschaft an.
Einige Sekunden lang verspürte Tom den verzweifelten
Wunsch, dieses Angebot anzunehmen, sich an Lissines Ruhe festzuklammern und die ganze schreckliche Wahrheit aus sich herausströmen zu lassen, damit seine gepeinigte Seele endlich Frieden fand. Er brauchte nur alles zu erzählen.
»Eigentlich gibt es gar nichts, über das wir reden könnten«, hörte er sich sagen und lächelte wie beiläufig. »Vielleicht siehst du Ungeheuer, die überhaupt nicht existieren.«
Lissine antwortete nicht, berührte ihn an der Wange und sah ihm in die Augen. Tom fürchtete, dass sie erneut versuchen wollte, einen Kontakt mit seinem Selbst herzustellen, und konzentrierte sich auf eine mentale Abschirmung. Nach einigen Sekunden ließ Lissine die Hand sinken und wandte den Blick ab. »Du tust mir Leid, Tom«, sagte sie so leise, dass er sie kaum hörte. »Sehr Leid.«
Und damit ging sie. Kleidung raschelte und dann war Lissine fort.
Es erklang kein Gesang mehr in der Ferne. Stille herrschte im Park, wie die Lautlosigkeit zwischen den Sternen. Tom fühlte sich so allein wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Sie erschienen in Toms Quartier an Bord der Copernicus. Er folgte seiner üblichen Routine, brachte den Dienst hinter sich, trainierte im Sportzentrum, suchte dann die Offiziersmesse auf, trank einige Flaschen Bier, kehrte in seine Kabine zurück und sank aufs Bett. Inzwischen hatte er Synthehol zugunsten von echtem Alkohol aufgegeben. Dieser betäubte seine Sinne besser und dadurch fiel ihm das Schlafen leichter.
Es beunruhigte ihn, dass er immer häufiger träumte.
Grässliche Bilder suchten ihn heim, wenn er die Augen schloss. Oft erwachte er mit klopfendem Herzen, keuchte und fühlte sich von einer Angst erfüllt, die nach dem Erwachen verschwand. Dann wusste er, dass er einen Albtraum gehabt hatte, aber er konnte sich nicht an Einzelheiten erinnern. Er dachte daran, die Hilfe des Bordarztes in Anspruch zu nehmen, aber er wollte keine Fragen nach den möglichen Ursachen seiner Ängste beantworten.
Auf diese Weise litt er seit dem Erlebnis mit Lissine und immer wieder entsann er sich an ihre ominöse Warnung. Sie hatte Recht: Ein schlafender Riese war in seinem Selbst erwacht und streckte unruhig die Glieder, dazu bereit, sich ganz zu befreien. Die Vorstellung erfüllte Tom mit Entsetzen.
An diesem besonderen Abend hatte er genug getrunken, um sofort einzuschlafen, als er sich auf dem Bett ausstreckte.
Später wurde ihm klar, dass er vor dem Erwachen nicht geträumt hatte, zum ersten Mal seit vielen Nächten. Aber was ihn stattdessen erwartete, war weitaus schlimmer.
Er öffnete die Augen in der Dunkelheit, als er sich einbildete, ein Geräusch gehört zu haben. Es musste Einbildung sein –
eine andere Erklärung gab es nicht. Es klang nach einem leisen Seufzen, als striche Wind durch eine alte, leere Dachkammer.
Aber an Bord eines Raumschiffs gab es natürlich keinen Wind.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Tom eine Bewegung, drehte den Kopf und sah zum Fenster, das Ausblick ins All gewährte.
Eine dunkle Silhouette zeichnete sich vor dem Hintergrund im Warpflug vorbeistreichender Sterne ab. Das Gesicht blieb verborgen, aber das dichte Haarbüschel auf dem Kopf ließ keinen Zweifel daran, um wen es sich handelte.
Es war Charlie.
Entsetzen erfasste Tom und seine Hände zitterten heftig.
Verzweifelt tastete er nach dem Kontrollfeld neben dem Bett, um das Licht einzuschalten und den unwillkommenen
Besucher damit zu vertreiben. Panik hinderte ihn daran, die richtigen Kontrollen zu finden. Seine Finger berührten alle Schaltflächen in Reichweite, ohne dass etwas geschah. Er wagte es nicht, über die Schulter zu sehen, aus Furcht davor, dass sich Charlie
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