Schicksalspfade
zu.
»Dies ist Libby Lattimore, die Künstlerin«, sagte Harry stolz.
»Mein Zimmergenosse, George Mathers. Er findet deine
Gemälde hervorragend.«
Libby streckte die Hand aus. »Danke, dass Sie gekommen sind, George. Harry hat mir viel von Ihnen erzählt.«
George versuchte zu lächeln, aber für Harry wirkte es gezwungen. Was stimmte nicht? »Sie sind sehr talentiert, Miss Lattimore«, sagte George förmlich. »Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, Ihre Arbeit zu sehen.«
Harry wusste, dass George normalerweise nicht auf diese Weise sprach. Warum gab er sich so steif und förmlich? Harry war verwirrt und auch enttäuscht. Ihm lag viel an diesen beiden Personen und er wünschte sich, dass sie sich mochten und gut miteinander auskamen. Aber George war fast eisig.
Mit gespielter Fröhlichkeit wandte er sich an Harry.
»Nun, ich sollte jetzt besser zur Differenzialrechnung zurückkehren. Übermorgen erwartet mich eine Prüfung und ich brauche jede Minute, um mich darauf vorzubereiten. Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben«, fügte er an Libby gerichtet hinzu und eilte dann fort.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Libby, der das seltsame Verhalten aufgefallen war.
»Nein, natürlich nicht. Vielleicht fühlt er sich nicht wohl.«
Harry sah in Libbys dunkle Augen und sofort vergaß er George. Sie verbrachten den Abend zusammen und Harry war sehr stolz, als Libby von all den Leuten gelobt wurde, die ihre Bilder gesehen hatten. Er dachte nicht an George und sein seltsames Verhalten – bis er spät am Abend zur Akademie zurückkehrte und sein Zimmer betrat, erfüllt von Gedanken an Libby und der herrlichen Erinnerung an ihren ersten Kuss.
Er trat schnell ein, für den Fall, dass George bereits schlief, und tatsächlich war es dunkel im Zimmer. Doch George lag nicht etwa im Bett, sondern saß am Fenster und blickte nach draußen in die Nacht. Vor dem Licht des Mondes zeichnete sich seine Silhouette ab.
»George? Ist alles in Ordnung mit dir?«
George drehte nicht den Kopf, um zu antworten. »Es geht mir gut«, sagte er, aber es klang alles andere als überzeugend.
Harry sah zu ihm und erinnerte sich an sein sonderbares Verhalten bei der Ausstellung. »Ich dachte, du fühlst dich vielleicht nicht wohl«, sagte er. »Du bist so schnell fortgegangen.«
George wandte sich ihm zu und das Licht des Mondes zeigte den Schmerz in seinen Augen. »Ich bin ein Narr gewesen, Harry, und es ist nicht ganz leicht, mir das einzugestehen.«
»Wovon redest du da?«, fragte Harry verwirrt. Es folgten einige Sekunden der Stille und George atmete so schwer, als bekäme er nicht genug Sauerstoff.
»Als ich dich heute Abend mit der Frau sah… Da begriff ich, was du für sie empfindest. Und… Es war mir einfach nicht klar.«
»Was war dir nicht klar?«
George gab ein Geräusch von sich, das einerseits wie ein ironisches Lachen klang und andererseits wie eine
Verwünschung. »Bist du so schwer von Begriff, Harry. Muss ich es dir in allen Einzelheiten erklären?«
Harrys Verwirrung wuchs. Er wusste beim besten Willen nicht, warum sich sein Freund auf diese Weise verhielt und was es mit seinen Andeutungen auf sich hatte. »Bitte, George.
Ich verstehe dich wirklich nicht.«
George stand auf. Das Licht des Mondes erhellte eine Seite seines Gesichts; die andere blieb dunkel. Das eine sichtbare Auge blickte tieftraurig. »Ich liebe dich, Harry. Ich liebe dich.
Und ich dachte, du erwiderst meine Gefühle.«
Harry starrte ihn groß an und plötzlich verstand er alles. Von einem Augenblick zum anderen begriff er, dass er der Narr gewesen war. Er hatte nie daran gedacht, dass George ihre Beziehung aus diesem Blickwinkel sah. Jetzt warf er sich vor, das Offensichtliche übersehen zu haben.
»Es tut mir Leid, George. Ich bin sehr dumm gewesen.«
George schüttelte den Kopf. »Ich bin von bestimmten
Annahmen ausgegangen, weil ich es wollte«, gestand er. »Du hast dich nicht mit Frauen getroffen und den Eindruck erweckt, Gefallen an meiner Gesellschaft zu finden. Wir waren immer zusammen… Ich habe daraus die Schlüsse gezogen, die mich glücklich machten.«
»Aber es gab nie etwas Intimes zwischen uns…«
»Ich habe es mir gewünscht und dachte, dass es mit der Zeit dazu kommen würde. Es hat mir so sehr gefallen, mit dir zusammen zu sein, dass ich nicht riskieren wollte, irgendetwas zu überstürzen.« George schüttelte reumütig den Kopf. »Wenn ich mir gegenüber ehrlich gewesen wäre, hätte ich zugeben
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