Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
inzwischen herausgefunden, wer ich bin?« Die Unruhe hatte mittlerweile seinen ganzen Körper ergriffen. Verdammt, warum fiel es ihm so schwer, sich zusammenzureißen?
»Das nicht«, antwortete Claas. »In diesen Zeiten ist es schwierig, unauffällig Erkundigungen einzuziehen. Aber der Rat der Stadt hat dem Ersuchen von Kapitän Hinrich stattgegeben, dass der Käpt’n für Euch bürgen darf. Das heißt, Ihr könnt unter seiner Obhut in seinem Haus abwarten, bis sich alles geklärt hat.«
Erik brauchte eine Weile, bis er begriff.
»Das heißt, ich werde aus dem Gefängnis entlassen?«
»Das heißt es.« Der Stadtrat lächelte ihm aufmunternd zu.
»Ich danke Euch!«
»Dankt Kapitän Hinrich. Ihr solltet auch wissen, was die Bürgschaft bedeutet. Hinrich wollte zwar nicht, dass ich Euch darüber in Kenntnis setze, aber ich halte es für meine Pflicht, es doch zu tun.« Claas’ Gesicht war ernst geworden. »Er hat sich dafür verbürgt, dass Ihr nicht flieht, sondern bis zum Abschluss der Verhandlungen bei ihm bleibt. Er hat seinen Anteil an der Adela als Pfand eingesetzt. Solltet Ihr fliehen, verliert er sein Schiff und damit seinen Lebensunterhalt.«
»Das hat er getan?« Erik starrte Claas fassungslos an. Hatte Brida ihrem Vater etwa nichts von seinen Sorgen erzählt? Warum ging der Kapitän ein solches Risiko ein?
»Er muss große Stücke auf Euch halten«, bestätigte Claas. »Und nun kommt, er wartet oben vor dem Ratssaal. Der Entschluss wurde gerade erst gefasst, und ich wollte es mir nicht nehmen lassen, es Euch als Erster zu verkünden.«
Hinrich empfing ihn mit seinem unverkennbaren Lächeln, väterlich und fürsorglich, aber auch ein bisschen verschmitzt.
»Na, dann kommt mal mit«, sagte er und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Danke«, sagte Erik leise. Es hätte überschwänglicher Worte bedurft, um seine Dankbarkeit auszudrücken, aber in diesem Moment versagte ihm fast die Stimme. Trotzdem schien Hinrich seine Gefühle genau zu spüren und klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter.
Zum ersten Mal seit drei Wochen wieder den Himmel sehen. Erik atmete tief durch. Es war Mai geworden, überall blühte und grünte es. Die Farben auf dem Markt blendeten ihn. Der Tuchhändler war gar nicht klein und schmächtig, sondern groß und dürr.
»Der Stadtrat hat mir erklärt, was die Bürgschaft bedeutet«, sagte er, nachdem sie den Markt hinter sich gelassen hatten und auf dem Weg zu Hinrichs Haus waren.
»Hat er das?« Der Kapitän runzelte die Stirn. »Ich wollt’s eigentlich nicht.«
»Warum riskiert Ihr Euer Auskommen, um mir zu helfen?«, fragte Erik. »Hat Brida Euch nichts von meinen Befürchtungen erzählt? Dass ich womöglich gar nicht der bin, für den Ihr mich haltet?«
»Riskiere ich es? Werdet Ihr davonlaufen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Na also.«
»Aber das beantwortet nicht meine Frage.«
Hinrich blieb stehen. »Wie lange hättet Ihr es in der Enge der Zelle noch ausgehalten? Ich meine, ohne gegen die Tür zu treten oder Euch die Fingerknöchel an den Wänden blutig zu schlagen? Noch eine Woche? Zwei Wochen? Vielleicht sogar einen Monat?«
»Woher wisst Ihr …« Er brach ab, denn er erinnerte sich an Bridas Worte.
»Ihr habt es selbst erlebt, nicht wahr?«
»Ja. In einer Welt, deren Sprache mir unbekannt war und in der ich nicht begriff, dass es eigentlich zu meinem Schutz geschah. Das erfuhr ich erst viel später, als ich gelernt hatte, die Menschen zu verstehen.«
»Brida erzählte mir davon. Ihr befandet Euch unter Mauren.«
Hinrich nickte. »Nur sind wir hier nicht unter Mauren, und es gibt keinen Grund, Euch einzusperren. Leider hat es gedauert, dem Rat dies klarzumachen. Man wollte erst abwarten, was Claas über Eure Herkunft erfährt.«
»Aber er hat nichts erfahren.«
»Nein, noch nicht.«
»Nicht einmal einen Verdacht?«
»Zumindest nichts, das er mir mitgeteilt hätte. Was ist mit Euch, Erik? Habt Ihr Euch an etwas Neues erinnert?«
Erik schüttelte den Kopf. »Nichts. Es war, als würden die Wände der Zelle mich erdrücken und alle Gedanken in mir absterben.« Er holte tief Luft. »Wisst Ihr, was das Schlimmste war? Ich konnte nicht einmal Zuflucht in alten Erinnerungen finden, mich nicht fortträumen. Weil es da nur diese Leere gab. Und die Dinge, an die ich mich erinnerte, waren nicht geeignet, mir Vertrauen einzuflößen.«
»Es ist vorbei«, sagte Hinrich. »Ganz gleich, was Claas herausfindet, wir werden einen gangbaren Weg für
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