Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
und eine schlichte dunkle Hose. Die Schuhe wirkten schon recht abgetragen.
»Ist dies das Haus von Kapitän Hinrich Dührsen?«
»Ja«, antwortete Erik kurz, ohne sich dem Mann zuzuwenden. Seine Aufmerksamkeit gehörte Hans. »So, nun musst du das Holz ganz vorsichtig aus der Rinde ziehen. Aber so, dass sie nicht einreißt, ja?«
»Du bist doch der, der sein Gedächtnis verloren hat, oder?«, rief der Fremde. Jetzt drehte Erik sich ganz zu ihm herum.
»Was willst du von mir?«
»Ich glaub, ich kenn dich.«
Brida spürte, wie Marieke sie vor Aufregung in den Arm kniff. Wenn das stimmte! Es wäre zu schön!
Der Fremde betrat den Vorgarten und ging auf Erik zu. Sie sah, wie Erik den Mann musterte. Er versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, aber sie war sich sicher, dass er nur wieder Leere in sich spürte. Auf einmal ging alles ganz schnell. Brida sah kaum das helle Blitzen der Klinge, die der Fremde plötzlich in der Hand hielt. Ein schneller Sprung vorwärts, geradewegs auf Erik zu. Mariekes Schrei übertönte ihren eigenen. Erik handelte ohne Schrecksekunde, packte die Waffe des Mannes und drehte sie. Ein grauenvoller Schrei, dann sackte der Fremde zusammen. Sein eigenes Messer steckte ihm bis zum Heft in der Brust.
Brida rannte nach draußen. Hans stand blass neben der Weide, in einer Hand immer noch die halb fertige Flöte. Erik hatte sich über den Toten gebeugt und starrte ihm ins Gesicht.
»Wer war das?«, fragte Brida. »Warum wollte er Euch töten?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Marieke zu Hans lief und ihn in die Arme nahm.
Plötzlich stand Bridas Vater neben ihnen. Hatte er auch alles beobachtet? Sie suchte seinen Blick. Der Ausdruck in seinen Augen erschreckte sie noch mehr als das, was sie eben gesehen hatte.
»So kämpft kein Kaufmann«, sagte er mit einem Seitenblick auf Erik. »So kämpft nur jemand, der das Töten gelernt hat.«
Erik richtete sich auf.
»Er hat mich angegriffen. Ich hatte keine Wahl.«
»Nein, die hattet Ihr nicht«, bestätigte der Kapitän. »Aber allmählich glaube ich, dass Ihr recht habt. Ihr seid kein gewöhnlicher Kaufmann, der einfach nur Pech hatte.«
»Ich habe nie versucht, Euch etwas vorzumachen.«
Hinrich nickte. »Das ist wahr. Ich werde den Überfall am besten gleich selbst bei der Stadtwache melden. Ihr solltet ins Haus gehen.«
»Werdet Ihr Eure Bürgschaft für mich zurücknehmen?«
Brida sah die Unsicherheit in Eriks Augen. Oder war es Furcht?
»Warum sollte ich? Wie Ihr schon sagtet, Ihr hattet keine andere Wahl. Ich frag mich nur…«
»Was fragt Ihr Euch?« Eriks Hände fingen wieder an zu zittern.
»Was unser lieber Pfarrer sagen wird, wenn er von der Sache hört. Der ist Euch ja weiß Gott nicht wohlgesinnt. Hat mir tagelang in den Ohren gelegen und versucht, mir die Bürgschaft auszureden. Na, wir werden auch das überstehen.« Er klopfte Erik aufmunternd auf die Schulter, dann ging er in Richtung Rathaus.
Ausgerechnet der kleine Hans war der Erste, der sich von dem Schrecken erholte.
»Das war toll, wie du den Schurken besiegt hast!«, rief er, als sie wieder in der Küche saßen. »Bringst du mir das bei, Erik?«
»Hans!«, empörte sich Marieke.
»Lass ihn«, sagte Erik leise. »Er weiß es noch nicht besser.« Dann wandte er sich dem Jungen zu. »Komm her zu mir.«
Sofort war Hans bei ihm. Erik hob ihn auf den Schoß.
»Weißt du noch, wie wir gegen den schwarzen Ritter gekämpft haben?«
Hans nickte eifrig. »Wir haben gewonnen, und am Schluss war er tot.«
»Richtig. Und wo ist er jetzt?«
»Bei Großmutter in meiner Kammer.«
»Du kannst ihn also zurückholen, und wir könnten wieder gegen ihn kämpfen.«
»Soll ich ihn holen?«
»Nein. Aber du könntest es. Und dann würde er wieder leben, und wir könnten abermals gegen ihn kämpfen und gewinnen.«
Wieder nickte Hans.
»Der Mann da draußen wird sich nie wieder erheben, Hans. Er ist tot. Für immer. Und jetzt steht er vor dem himmlischen Richter und muss sich verantworten für alle seine Taten. Und er hatte keinen Priester an seiner Seite, der ihm die Absolution erteilte. Er starb, als er Böses zu tun versuchte. Und er zwang mich, auch etwas Böses zu tun. Ihn zu töten, damit er nicht mich tötet. Darin liegt nichts Gutes, Hans. Und das solltest du nicht früh lernen.«
»Aber …«, wollte der Junge widersprechen, doch Erik fuhr ihm über den Mund.
»Nein, Hans. Das ist kein Spiel. Frag mich nie wieder danach,
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