Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
nicht, ob er sie nun bedauern oder ihre Lebendigkeit bewundern sollte.
»Vater ist immer noch nicht zurück.« Brida spähte zum wiederholten Mal aus dem Küchenfenster. Die Sonne hatte ihren Zenit schon vor einiger Zeit überschritten. »Er wollte um die Mittagszeit zurückkommen.«
»Ach, der hat irgendwo jemanden getroffen, der ihn auf ein Glas Wein eingeladen hat«, sagte Kalle.
»Das ist nicht seine Art«, widersprach Brida. »Ich mein, uns einfach warten zu lassen, gerade jetzt, da …« Sie brach ab, als ihr Blick auf Erik fiel. Sofort hatte Erik Schuldgefühle. Er hätte den Käpt’n nicht länger für sich bürgen lassen dürfen. Es war eine Sache, dass er die Adela als Pfand einsetzte, aber eine ganz andere, das Leben seiner Familie in Gefahr zu bringen.
»Wohin wollte er denn?«, fragte er.
»Er sagte nur, er hätte noch was am Hafen zu tun. Keine Ahnung, worum’s ging.«
»Vielleicht ist er in der Seejungfrau ?« Kalle grinste.
»Ach, Kalle, da geht er doch nie hin. Wenn, dann höchstens in die Fischerstube .«
Erik stand auf. »Ich werd ihn suchen, dann seid Ihr beruhigt, Brida. Kommt Ihr mit, Kalle?«
»Aber immer doch«, stimmte der Schmuggler zu. »Und wenn wir zwei nicht so schnell wiederkommen, dann haben wir uns bloß dazugesetzt, um Hinrich Gesellschaft zu leisten. Also bloß keine unnötigen Gedanken!«
»Hör auf, dich darüber lustig zu machen«, fauchte Marieke. »Siehst du nicht, dass Fräulein Brida Angst hat?«
»Ist ja gut.« Kalle hob beschwichtigend die Hände. »Wir komm’n auch gleich wieder, wenn wir ihn gefunden haben.« Dann wandte er sich an Erik. »Wollt Ihr keine Waffe mitnehmen?«
»Wozu? Ist doch alles harmlos, oder?«
»Na ja, für mich und den Käpt’n schon, aber für Euch …«
»Soll ich mir von Marieke ein Brotmesser mitgeben lassen?« Erik lachte. »Ich glaub nicht, dass ihr das recht wär.«
»O doch, Ihr könnt das hier gern haben.« Marieke hielt ihm das große Messer hin, das er am Tag zuvor zurückgewiesen hatte, als er Hans zeigen wollte, wie man eine Weidenflöte schnitzt. »Das ist doch gut, um Schurken die Köpfe abzuschneiden, oder?«
»Lass es, Marieke. Ich komm auch so klar. Und wenn mir ein Schurke auflauert, habe ich ja Kalle an meiner Seite, nicht wahr?« Er schlug dem Schmuggler auf die Schulter, und der nickte grinsend.
»Wir schau’n aber doch erst mal in der Seejungfrau nach«, sagte Kalle, kaum dass sie das Haus verlassen hatten. »Väter erzähl’n ihren Töchtern nicht immer, wo sie gern mal einen trinken.«
»Wenn’s sein muss. Ich habe mein Herz nicht gerade an die Gäste dieses Hauses verloren.«
»Ach?«
»Hat Marieke Euch das gar nicht erzählt? Die hätten mich am liebsten am nächsten Lasthaken aufgehängt.«
»Ah, doch, ja, hat sie erzählt.« Kalle senkte verlegen den Blick. »Aber keine Angst, das trau’n die sich nicht noch mal. Sonst lass ich mein Messerchen tanzen, und das will da bestimmt keiner sehen.« Er zog es aus der Scheide am Gürtel und vollführte damit einige eindrucksvolle Drehungen.
»Ganz nett«, lobte Erik. Auf einmal wusste er, dass er früher oft mit einer solchen Waffe gekämpft hatte. Lieber als mit dem Schwert, obwohl das lange Messer nur unwesentlich kürzer war. Aber es war leichter und daher schneller zu handhaben.
»Was heißt ganz nett? Das kann hier keiner.«
Erik streckte die Hand aus. »Darf ich mal?«
Kalle reichte ihm das Messer.
»So, wie ging das doch gleich?« Erik wirbelte das lange Messer auf die gleiche Weise herum, nur etwas schneller.
»Angeber!«, rief Kalle.
»Manchmal.« Erik grinste und gab ihm das Messer zurück.
»Ich möchte ja zu gern wissen, was Ihr so getrieben habt, bevor Ihr Euer Gedächtnis verloren habt. Bestimmt wart Ihr um kein Duell verlegen.«
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Weil Ihr solche Spielerei beherrscht. Besser kann man seine Gegner doch nicht verunsichern.«
»Das klingt ganz danach, als wärt Ihr auch ein gefürchteter Haudrauf.«
»Manchmal.« Kalle grinste so wie zuvor Erik.
Musik und Gelächter dröhnten aus dem Innern der Schenke Zur Seejungfrau . Erik zögerte, aber Kalle öffnete einfach die Tür und trat ein.
»Nu kommt schon!«, forderte er Erik auf. »Im Notfall machen wir Sägespäne aus den Tischen.«
Die Seejungfrau war eine Hafentaverne übelster Art. Der Geruch von Bier mischte sich mit dem von saurem Wein und menschlichen Ausdünstungen. Die abgetretenen Dielenbretter waren schon lange nicht mehr gescheuert worden.
Weitere Kostenlose Bücher