Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
den Kopf verloren. Ich hab noch den Ausdruck in seinen Augen gesehen. Wie so ’n in die Enge getriebenes Tier.«
Brida nickte. Sie kannte diesen Blick.
»Und dann ist er einfach ins Wasser gesprungen und nicht wieder aufgetaucht«, fuhr Kalle fort. »Der war einfach weg. Keiner wusste, wohin man ihm folgen sollte.«
»Er ist sicher ein guter Schwimmer«, sagte Brida und wunderte sich über ihre eigene Ruhe. »Sonst hätte er nicht als Einziger das Schiffsunglück überlebt. Aber was ist mit Vater?«
Kalle schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, was der Seyfried gesehen haben will. Ich bin mir nur sicher, dass er lügt.«
»Aber Clemens glaubt ihm.«
»Ach, was der Pfaffe sagt, das kann man doch nicht ernst nehmen.«
»Kalle!«, fuhr Marieke ihn an. »So lästerlich darfst du nicht reden, er ist immerhin der Pfarrer.«
»Umso schlimmer.« Kalle schnaubte verächtlich. »Ich konnte ihn noch nie leiden. Wenn ich’s nicht wüsst, dann hätt ich nie geglaubt, dass so ’n verlogenes Stück der Vetter vom Käpt’n ist.«
Für eine Weile herrschte Schweigen.
»Wirst du noch mal nach Vater suchen?«, fragte Brida schließlich. »Und nach Erik?«
Ein leises Klappen in der Diele, so als spiele der Wind mit der Haustür. Sie beachtete es kaum, bis sie Schritte hörte.
»Beides nicht notwendig«, sagte jemand hinter ihr.
Brida fuhr herum. Erik stand in der Tür zur Küche, tropfnass und ohne Hemd.
»Ich habe Hinrich gefunden. Er lebt, aber er ist schwer verletzt. Seyfried hat ihn niedergestochen.«
»Dieses Schwein!«, schrie Kalle. »Wo ist der Käpt’n?«
»Ich bring Euch hin. Aber er wollte, dass ich ihn und Brida mit Euch nach Fehmarn bringe, Kalle. Hier sei’s zu gefährlich.«
»Seyfried hat ihn niedergestochen?«, rief Brida. Sie konnte es kaum glauben. Seyfried hatte ihren Vater … O Gott, Vater! Er lag dort irgendwo, hilflos blutend. Und man wollte Erik die Tat unterschieben. Vater … Ein schwarzer Abgrund tat sich vor Brida auf und riss ihre Welt aus den Fugen. Seyfried war ein Meuchler. Und der Pfarrer schützte ihn!
Marieke hatte sich als Erste gefasst. Schneller, als Brida handeln konnte, hatte sie zum Korb mit dem Verbandszeug und Salbentiegeln gegriffen und ihn ihrer Herrin in die Hand gedrückt.
»Was ist mit Eurem Hemd geschehen?«, fragte die junge Magd.
»Ich hab’s benutzt, um Hinrichs Blutung zu stillen.«
Marieke verschwand aus der Küche und war sofort wieder da, mit einem Tuch und mehreren frischen Hemden.
»Hier, trocknet Euch ab und zieht das an. Und hier, Fräulein Brida, ich glaub, der Käpt’n braucht auch frische, trockene Sachen. Holt ihn mit Kalle, ich pack hier das Nötigste zusammen und erwart euch alle dann am Hohen Ufer.«
»Mein Marieken, du bist die Beste!« Kalle zog sie an sich und drückte ihr einen lauten Schmatzer auf die Wange.
Während Erik sich das frische Hemd überzog, fand Brida endlich zu ihrer alten Festigkeit zurück.
»Dann lasst uns gehen.«
»Vorsicht«, warnte Erik, als Brida die Tür öffnen wollte. »Wir müssen aufpassen, dass uns niemand sieht. War nicht ganz einfach für mich, unbemerkt hierher zurückzukommen.«
»Vielleicht solltet Ihr doch lieber das hier mitnehmen.« Kalle stand hinter Erik, in der Hand das lange Küchenmesser, das Marieke ihm schon einmal angeboten hatte.
Erik verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Wortlos nahm er Kalle das Messer ab. Zu Bridas Erstaunen steckte er es sich nicht in den Gürtel, sondern in den rechten Stiefel. Warum war ihr vorher nie aufgefallen, dass in seinen Stiefel eine Messerscheide eingenäht war? Vermutlich weil sie gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre. Damals, als sie ihn noch für einen gewöhnlichen Kaufmann gehalten hatte, ein harmloses Opfer des Sturms.
Erik öffnete behutsam die Tür, nur um sie rasch wieder zu schließen.
»Was ist?«, fragte Brida.
»Willem«, antwortete er. »Brida, sagt ihm nichts! Euer Vater hält es für zu gefährlich. Wir wissen nicht, was wirklich hinter allem steckt.« Dann verschwand er hastig in seiner Kammer. Keinen Wimpernschlag später klopfte es an der Tür.
Brida öffnete.
»Herr Hauptmann«, begrüßte sie Willem. »Bringt Ihr Neuigkeiten von Vater? Pfarrer Clemens war eben bei mir.«
»Ihr seid im Aufbruch?«, fragte Willem, als er sah, dass sie ihren Umhang trug. Den Korb hatte sie flugs in eine Ecke geschoben.
»Ja, Kalle wollte mich begleiten, um noch einmal alles nach Vater abzusuchen.«
»Darf ich dennoch kurz
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