Schicksalstage - Liebesnächte (German Edition)
auch Melissa mit diesem Kosenamen bedacht. Wie die meisten Zwillinge waren sie es gewohnt, sich vieles zu teilen. „Vermisst du Big John auch so sehr wie ich?“
„Ja“, sagte Brad unumwunden. Sekundenlang starrte er in seinen Kaffeebecher, bevor er ihrem Blick begegnete. „Aber er ist nun mal fort. Und ich muss mich etwa drei Mal am Tag wieder daran erinnern und von Neuem loslassen.“
Sie konnte nicht länger still sitzen. Deshalb sprang sie auf, holte die Kaffeekanne und füllte seinen Becher auf. Sie blieb neben ihm stehen und fragte leise: „Und bei Mom ist dir das Loslassen sofort gelungen?“
Er nickte. „Es ist lange, lange her, aber ich erinnere mich ganz deutlich daran: Es war an dem Abend, als mein Basketballteam in der Highschool um die Staatsmeisterschaft gespielt hat. Ich war sicher, dass sie auf der Tribüne sitzen und uns anfeuern würde. Doch natürlich war sie nicht da, und da habe ich begriffen, dass sie niemals zurückkehrt.“
Ihr wurde das Herz schwer. Warum war ihr nie in den Sinn gekommen, dass auch er gelitten hatte, obwohl er ihr großer starker Bruder war?
„Big John ist geblieben“, fuhr Brad fort, „in guten und in schlechten Zeiten. Selbst nachdem er seinen einzigen Sohn begraben musste, hat er weitergemacht. Mom dagegen hat den Abendbus aus der Stadt genommen und sich danach nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht, anzurufen oder auch nur eine Postkarte zu schicken. Ich habe meine Trauerarbeit lange vor ihrem Tod geleistet.“
Ashley konnte nur stumm nicken.
Auch er schwieg lange Zeit, in Gedanken versunken, und nippte gelegentlich an seinem Kaffee. Dann sagte er: „Als es hart auf hart kam, habe ich praktisch dasselbe getan wie Mom. Ich habe einen Bus genommen und Big John allein mit der Ranch und euch Kindern gelassen. Also steht es mir nicht zu, andere zu verurteilen. Das Fazit: Die Menschen ändern sich nicht, sie werden immer wieder Fehler machen. Du musst dich entscheiden, ob du das akzeptieren oder dich ohne einen Blick zurück abwenden willst.“
Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande. „Es tut mir leid, dass ich mit den Hypothekenraten in Verzug bin.“
Er verdrehte die Augen. „Als ob mich das jucken würde!“ Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. „Warum lässt du mich die Pension nicht einfach auf dich überschreiben?“
„Würdest du das zulassen, wenn die Situation umgekehrt wäre?“
„Nein, aber …“
„Aber was?“
Er grinste und rollte verlegen die Schultern.
„Aber du bist ein Mann? Wolltest du das sagen?“
„Nun, ja.“
„Du kriegst das Geld, sobald ich Jacks Abrechnung fertig habe.“ Sie begleitete ihn zur Hintertür. „Danke, dass du in die Stadt gekommen bist. Ich fühle mich wie eine Idiotin, weil ich in Panik geraten bin.“
„Ich bin schließlich dein großer Bruder“, entgegnete er schroff, während er in seine Jacke schlüpfte. „Dafür bin ich da.“
„Fährst du morgen ins Krankenhaus, wenn Livie …“
Brad zog sie sanft am Zopf, wie er es früher immer getan hatte. „Nein. Wir bleiben zu Hause beim Telefon. Sie schwört, dass es eine normale Prozedur ist, und sie will nicht, dass wir – ich zitiere wörtlich: ein Theater daraus machen, als wäre es eine Herztransplantation .“
„Typisch Olivia.“ Ashley stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Noch mal danke. Ruf an, sobald du etwas Neues weißt.“
Er zog noch einmal an ihrem Zopf, wandte sich ab und verließ das Haus.
Sie blickte ihm nach und fühlte sich schrecklich allein.
Mühsam richtete Jack sich auf und streckte sich nach dem Schalter der Nachttischlampe. Allein diese kleine Anstrengung ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen, doch gleichzeitig spürte er, dass seine Kräfte zurückkehrten.
Er blickte sich im Zimmer um, registrierte die Blümchentapete, den blassrosa Teppichboden, die kunstvollen Verzierungen am Kamin und die beiden mädchenhaft zierlichen Stühle daneben. Dicke Schneeflocken tanzten vor den beiden Erkerfenstern, die mit bunt gepolsterten Sitzbänken ausgestattet waren.
Welch ein Unterschied zum Walter-Reed-Militärkrankenhaus!
Noch größer war der Gegensatz zum Dschungel, wo er sich fast drei Monate lang versteckt gehalten und auf die Chance gewartet hatte, sich die kleine Rachel Stockard zu schnappen, um sie aus dem Land zu schaffen und zu ihrer verzweifelten Mutter zurückzubringen.
Das FBI hatte ihn gut bezahlt für den gefährlichen Einsatz, aber es war vor allem die
Weitere Kostenlose Bücher