Schieber
die Zeilen noch einmal, zerknüllt das Papier in der
Faust und wirft es in den Ascheimer. Erbärmlich. Er wird einen neuen Zettel
schreiben. Einen Brief. Er wird sich etwas mehr einfallen lassen. Morgen. Er
wird ehrlich sein. Er wird Karl retten. Er wird Anna retten. Er wird sich
selbst retten.
Wenn er erst von der Werft zurückgekehrt ist. Falls er zurückkehrt.
Unter der Elbe
Mittwoch, 18. Juni 1947
Am frühen Morgen atmet Stave die zähe Luft, als würde ihm
jemand ein Stück Stoff vor Nase und Mund halten. Seine Finger sind
angeschwollen wie nach einem Boxkampf. Wenn er noch seinen Ehering hätte, würde
der ihm jetzt ins Fleisch schneiden. Als er auf den Balkon tritt und ins
weißliche Licht blinzelt, wirkt es, als wäre die gezackte Linie der Ruinen über
Nacht gewachsen. Einen Moment später erkennt der Oberinspektor, dass am
westlichen Horizont grauschwarze Wolkenberge wuchern, nur wenig höher als die
fahlen Trümmerhaufen und halb zerrissenen Häuser. Er befeuchtet den Finger und
hält ihn in die Höhe, um abzuschätzen, ob der Wind aus Westen weht. Wäre eine
Erleichterung, wenn er ein Gewitter über Hamburg triebe. Kein Hauch.
Er kramt lange in Schubladen und Schränken, bis er einen unbenutzten
Briefumschlag und ein sauberes Blatt Papier zusammengetragen hat. Für seinen
alten Füllfederhalter gibt es längst keine Tinte mehr, nicht einmal auf dem
Schwarzmarkt. Ein Bleistift muss es auch tun, den er mit dem Federmesser
sorgfältig spitzt.
Und dann schreibt Oberinspektor Frank Stave seinem Sohn den ersten
langen Brief seines Lebens. Er erklärt ihm, dass er nie in die Partei
eingetreten ist, weil ihn die dröhnende Aggressivität abgestoßen hat. Dass es ihn
traurig gemacht hat, wie begeistert Karl in der Hitlerjugend mitmachte.
Gesteht, dass er es trotzdem nie wagte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wie er
überhaupt in der braunen Zeit nichts wagte, das ihm seine Beamtenkarriere hätte
kosten können, denn dann hätte er in den harten wirtschaftlichen Zeiten seine
Familie nicht ernähren können. Der Tod Margarethes. Er beschreibt die
Bombennacht 1943 und wie er später, zu spät, ihren versehrten Körper fand. Soll
er auch über seinen verkrüppelten linken Fuß schreiben? Und darüber, dass er
nach Margarethes Tod eine lange nächtliche Stunde am Ufer der Elbe stand?
Später, sagt sich Stave. Du mutest deinem Sohn schon genug zu. Karls
freiwillige Meldung bei der Wehrmacht. Das Kriegsende. Die Engländer. Der
Neuanfang, der bessere Posten als »Unbelasteter«. Die Suche nach seinem Sohn,
endlose Stunden am Bahnhof. Der Trümmermörder im schrecklichen letzten Winter.
Anna. Er formuliert vorsichtig, deutet Liebe nur an und verschweigt nicht, dass
er selbst nicht weiß, ob es mit ihr eine Zukunft geben wird. Lass Karl sich da
herantasten, sagt er sich.
Ein neues Blatt, angegilbt und an einer Ecke eingerissen, aber er
findet kein unbeschädigtes mehr in der Wohnung. Sein aktueller Fall. Die toten
Kinder ohne Eltern, um die niemand trauert. Der Schmuggel im Hafen. Die
Hintermänner. Rätselhafte Tonbänder. MacDonald und Erna Berg. Die Frist, die
dem Lieutenant noch bleibt. Und das Geständnis gegenüber seinem Sohn, der in
der Wehrmacht kämpfte, dass dieser Offizier, der noch vor Kurzem ein Feind war,
ihm zum Freund geworden ist. Stave erklärt, dass er heute unbedingt bei Blohm
& Voss ermitteln, dass er vielleicht einen Schmuggler und den Mörder dreier
Kinder verhaften will. Und schließlich das Versprechen: »Ich komme heute Abend
trotzdem auf jeden Fall zurück. Es wird spät werden, aber ich komme zurück.
Bitte warte, auch wenn es Nacht sein wird. Du hast ja einen Schlüssel. Ich
liebe dich, Vater.«
Auf den Briefumschlag schreibt er in großen Lettern »Karl Stave,
persönlich.« Als der Oberinspektor endlich seine Wohnung verlässt, heftet er
das Schreiben mit Reißzwecken außen an die Tür, in Augenhöhe. Das soll,
verdammt noch mal, jeder sehen.
Als er aus dem Haus Ahrensburger Straße 93 tritt, kommt es ihm so
vor, als sei die düstere Wolkenlinie am Horizont ein wenig höher gewandert. Er
fühlt sich kräftig und zuversichtlich wie seit vielen Tagen nicht mehr.
In der Zentrale hockt Erna Berg auf ihrem Stuhl,
nassgeschwitzt, blass. Sie starrt die Schreibmaschine mit dem apathischen Blick
eines Boxers an, der nach schweren Schlägen noch einmal zur zwölften Runde in
den Ring tritt.
»Spätestens morgen wird ein Gewitter Abkühlung bringen«, versucht
sich der Oberinspektor mit
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