Schieber
Haar ist verklebt, auf dem dünnen Arbeitshemd breiten sich
dunkle Flecken aus. Soll er schwitzen, sagt sich der Oberinspektor und gönnt
ihm keine Erleichterung.
»Ich hatte gerade nichts auf Lager. War ja auch kein Schiff in der
Werft.«
»Kam in der Halle schon einmal was abhanden?«
Der Arbeiter blickt ihn verwundert an, dann verzieht er in
plötzlicher Erkenntnis das Gesicht. »Sie meinen, der Junge hat mich beklaut?
Nein, glaube ich nicht. Da kam nie was weg.«
»Auch nicht bei den Tonbändern?«
Ein Zögern. »Die Säcke habe ich nie gezählt. Und erst recht nicht,
wie viele Bänder da jeweils pro Sack drin waren. Wenn da einer was mitgenommen
hätte, dann wäre es mir nicht aufgefallen. Darf ich die Hände jetzt
herunternehmen?«
Stave tut so, als hätte er die Frage nicht vernommen. »Haben Sie die
Halle danach noch einmal als Lager benutzt?«
»Ich bin doch nicht verrückt! Das wäre viel zu auffällig gewesen.«
»Sie haben sich ein neues Versteck gesucht?«
»Ich suche noch«, gibt er zu. »Aber das wird immer schwieriger. Der
alte Blohm stellt hier alles auf den Kopf. Wahrscheinlich muss ich mich jetzt
ja auch nicht mehr umsehen.« Er seufzt resigniert.
Die Geschichte könnte stimmen, vermutet der Kripo-Mann. »Wo haben
Sie denn die Tonbänder her, die Sie gerade auf die ›Leland Stamford‹
geschmuggelt haben?«
»Die lagen heute Morgen bei mir im Spind. Zusammen mit einem Zettel
mit Anweisungen.«
»Wo ist dieser Zettel?«
»Den habe ich ins Wasser geworfen. Ist sicherer so.«
Stave unterdrückt einen Fluch. »Wenn es so abläuft wie bei den
ersten beiden Malen: Wo sind diesmal die restlichen Tonbänder versteckt?«
»Ich weiß es nicht.« Gehrecke keucht nun, seine Augen treten hervor.
Gleich kollabiert er, denkt Stave und bedeutet ihm mit einer unwirschen Geste,
die Arme sinken zu lassen. »Hände an der Hosennaht halten!«, befiehlt er.
Angenommen, diese Geschichte stimmt, überlegt Stave: Dann sind hier
irgendwo Tonbänder versteckt. Dann wird irgendjemand nachts kommen und sie
holen. Ich weiß nicht, wo diese verdammten Tonbänder liegen. Ich weiß nicht,
wer dieser Jemand ist. Aber ich weiß, wohin er sie bringen wird: auf die
»Leland Stamford«. Und ich weiß auch, wann das sein wird: in der übernächsten
Nacht. Denn übermorgen mit der ersten Flut läuft der Frachter aus.
»Mitkommen!«, herrscht er Gehrecke an.
Stave und MacDonald stecken ihre Waffen in die Holster.
Gehrecke läuft zwischen ihnen, kein Gedanke an Flucht oder Widerstand.
Hoffentlich wird der nicht laut, bittet der Kripobeamte im Stillen. Und
hoffentlich begegnen uns jetzt keine Arbeiter.
Sie haben Glück. Mittagszeit. Betonstaub in der Luft. Die Stahlteile
des zerschmetterten Krans, die sie passieren, sind so heiß, dass man sie nicht
mehr mit bloßer Hand anfassen kann. Niemand zu sehen. Die sitzen in den
Kaffeeklappen oder hocken irgendwo im Schatten und verzehren Mutters Stulle,
sagt sich Stave. Er würde jetzt gerne den Inhalt von MacDonalds Aktentasche
plündern, doch er fürchtet, dass Gehrecke vor einem Brot essenden und Tee
schlürfenden Oberinspektor weniger Respekt hätte und dann vielleicht Dummheiten
macht.
Sie betreten an der Anlegestelle eine Barkasse und wecken den
dösenden Steuermann. Der sieht aus, als läge ihm ein scharfes Wort auf den
Lippen, doch als er in die Gesichter der Männer blickt, schluckt er nur und
wirft die Leinen los.
Auf der Elbe atmet Stave durch. Gehrecke sitzt alleine am Heck der
Barkasse. Stave setzt sich neben ihn und zieht zwei Fotos aus dem Jackett, die
ihm Kienle gegeben hat. »Kennen Sie diese Personen?« Die Leichenfotos von
Hildegard Hüllmann und Wilhelm Meinke.
Gehrecke wird fahl. »Die sind auch tot?«
»Kennen Sie die beiden?«
»Nie gesehen. Verdächtigen Sie mich?«
Der Oberinspektor ist verblüfft. Das hat er noch nicht ernsthaft
bedacht. Liegt eigentlich nahe. Er beachtet Gehrecke allein deswegen kaum, weil
seine Ermittlungen in eine andere Richtung zielen. Leg dich nicht zu früh fest,
ermahnt er sich. Der könnte es gewesen sein. Wenn er jetzt allerdings darüber
nachdenkt, hat sich Gehrecke, als er die »Leland Stamford« verließ, mit der
Rechten die Zigarette angezündet. Er reicht ihm seinen Notizblock hinüber.
»Schreiben Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse auf«, befiehlt er.
Rechtshänder.
Stave betrachtet die ungelenken Buchstaben, denkt über die Sätze Gehreckes
nach, über sein Verhalten, über dessen wenig ausgeprägte Neugier.
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