Schieber
doch keine Kinder mehr. Vor dem Gesetz selbstverständlich
schon, sonst wären sie ja nicht hier: unmündige Knaben ohne Eltern oder einen
anderen Vormund. Aber tatsächlich sind die Bengel ja alle ehemalige Flakhelfer
oder Russlandkämpfer, die zu Flüchtlingen, Schwarzhändlern, Dieben, Hehlern
wurden. Die haben viel zu viel gesehen, um noch wie Sie oder ich Jungen gewesen
zu sein. Warum sollte ein Siebzehnjähriger, dessen Bildung darin besteht, zu
wissen, wie man eine Panzerfaust abschießt, und der sein Geld mit dem
Verschanzen von Zigaretten auf dem Schwarzmarkt verdient, plötzlich Geschmack
am Holzfällen im Wald finden? Warum sollte ein Bengel, der seit Jahren in
Bunkern lebt und sich hauptsächlich von Senior-Service-Zigaretten und
Selbstgebranntem ernährt, seine Tage friedlich in einer Baracke neben der Luhe
verdösen? Die meisten rücken aus, sobald sie wieder einigermaßen bei Kräften
sind.«
»Und Sie halten niemanden auf?«
»Ich bin allein hier und schon froh, dass keiner von den Kerlen mir
einen Totschläger über den Schädel zieht. Außerdem gibt es hier weder Zäune
noch Türschlösser. Ich rede mit den Jungen und versuche, sie von einem anderen
Leben zu überzeugen. Das gelingt manchmal. Ein paar haben im Hafen mit
ehrlicher Arbeit angefangen, zwei, drei gehen sogar wieder zur Schule. Und
einer hat ein Mädchen aus dem Dorf geheiratet und bewirtschaftet jetzt den Hof
seiner Schwiegereltern. Wenn Sie den sähen, würden Sie nicht mehr glauben, dass
der vor zwei Jahren noch T-34-Panzer abgeschossen hat. Dafür arbeite ich. Das
sind meine kleinen Siege. Meistens aber hagelt es Niederlagen.« Er zuckt die
Achseln.
»Ich muss die Jungen sprechen. Einen nach dem anderen.«
Bartsch nickt und denkt nach. »Ein toter Streuner ist die schlimmste
Niederlage für mich«, sagt er schließlich. »Ich kann mich zwar nicht erinnern,
dass wir jemals einen Adolf Winkelmann hier hatten, aber ich weiß, dass das
Leben draußen für die Bengel gefährlich ist. Ich will, dass Sie den Kerl
kriegen, der das getan hat. Aber nichts für ungut: Wenn ich die Jungen
zusammenrufe und ihnen verkünde, dass da ein Herr von der Kriminalpolizei in
der Baracke steht, der sie sprechen möchte, dann lösen die sich in Luft auf,
bevor Sie bis drei zählen können.«
»Was tun wir?«
»Ich gehe in den Wald und bringe den ersten Jungen unter einem
Vorwand hierhin. Den befragen Sie, während ich den nächsten hole. Der erste
bleibt hier, wenn Sie mit ihm fertig sind. Dann kann er die anderen nicht
warnen. So sammle ich die Kerle nach und nach ein und hoffentlich rückt keiner
aus.«
Stave lächelt. »So machen wir das.«
»Fühlen Sie sich im Büro wie auf der Wache«, sagt Bartsch und tritt
mit einem Nicken hinaus.
Nach ein paar Minuten kommt der Herbergsvater wieder, ein
schmächtiger Junge an seiner Seite. Braune, kurze Haare, hageres Gesicht,
sonnenverbrannte Haut, kragenloses altes Hemd, kurze Hose in Khaki, Sandalen.
»Friedel Bertram«, stellt ihn Bartsch vor, »er ist fünfzehn und seit
zwei Wochen bei uns.« Klingt stolz dabei, denkt Stave, also sind zwei Wochen
Aufenthalt im Heim schon überdurchschnittlich.
»Sie sind von der Polente?«, platzt Friedel heraus, sobald der
Herbergsvater die Tür zum Büro geschlossen hat. Halb misstrauisch, halb
neugierig.
»Kriminalpolizei. Oberinspektor Stave.« Er deutet auf einen Stuhl.
»Ich bin sauber«, erwidert der Junge und ignoriert die Geste.
Stave starrt auf die mageren Oberschenkel des Burschen. Seltsame
Narben, fast wie Schrotschüsse. Noch kaum verheilt.
Friedel bemerkt den Blick, wird rot. »Ich hatte Krätze«, stammelt
er. Ȇberall. An den Beinen war es besonders schlimm. Der Arzt hat mir eine
Salbe gegeben. Jetzt geht das weg. Aber er hat gesagt, dass ich an meinen Beinen
Narben behalten werde.«
»Jungen mit Narben haben bei Mädchen einen Schlag«, antwortet Stave
wenig überzeugend. »Ich ermittle nicht gegen dich. Ich hoffe, von einem von
euch Informationen zu bekommen, die mir in einem Fall nützlich sein könnten.
Einem Mordfall.«
»Toll«, ruft Friedel und setzt sich doch, neugierig und jetzt ganz
entspannt.
Möchte wissen, was der gedreht hat, denkt Stave, dass er plötzlich
so erleichtert ist. Dann erklärt er dem Jungen alles, was er vom Todesfall
Adolf Winkelmann für erzählenswert hält.
»Den Adolf kenne ich«, gibt der Junge zu. »Kannte ich. Nicht gut«,
setzt er dann schnell hinzu.
»Von der Schule?«
Friedel lacht so laut, dass der
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