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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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gegenüberliegenden Ufers liegt wie eine stumpfe, gelbe Matte da.
An einer Kreuzung ein hohes, hölzernes Schild, ein Pfosten, eine pfeilförmige
Tafel, so, wie es Pioniereinheiten aller Armeen in die Etappe rammen: »Heim und
Werk« steht dort, der Pfeil weist auf eine rissige Straße, die sich den Hang
hochwindet. In der Entfernung erblickt Stave einige Baracken vor einem
Wäldchen. Sieht aus wie eine alte Kaserne, denkt er.
    Tatsächlich erkennt er schon beim Hochfahren ein altes Wachhäuschen
am Straßenrand und eine Schranke, die allerdings offen ist. An der Wand des
Postens liest er verblasste englische Worte und einige Ziffern. Da müssen
einmal Tommies stationiert gewesen sein.
    Der Oberinspektor parkt den Wagen auf einem kiesbestreuten, leidlich
gepflegten Platz vor der ersten Baracke. Noch bevor er ausgestiegen ist, geht
dort eine Tür auf und ein Mann tritt heraus: Mitte sechzig, graue Haare über
einem rundlichen Gesicht, graue Augen, graue Haut, breite Schultern.
    »Bringen Sie mir noch einen Jungen?«, ruft er.
    Nette Begrüßung, denkt Stave und wirft die Autotür zu. Der hat
sofort erkannt, dass die Polizei da ist.
    Er stellt sich vor, zeigt seinen Dienstausweis.
    »Gustav Bartsch«, sagt der Mann und schüttelt die dargebotene Hand.
Kräftiger Druck. »Ich bin der Herbergsvater. Wenn Sie keinen Jungen bringen,
dann wollen Sie einen abholen. Wer hat etwas ausgefressen?«
    »Wer von Ihren Jungen hat noch nichts ausgefressen?«, gibt der
Oberinspektor zurück und lächelt. »Ich suche bloß nach Zeugen.« In kurzen
Worten erklärt er seinen Fall.
    Bartsch führt ihn unterdessen in die Baracke. Sie treten in eine
karge Schreibstube. Lediglich ein blassviolettes Veilchen in einem mit Erde
gefüllten Marmeladenglas bringt einen Farbfleck in den Raum. Drückende Hitze
trotz der weit geöffneten Fenster.
    »Ist halt eine Baracke«, sagt Bartsch entschuldigend. »Im Sommer
geht man hier ein und sehnt sich nach dem Winter. Im Winter erfriert man und
sehnt sich nach dem Sommer. Einer der Gründe, warum die Bengel es hier meist
nicht sehr lange aushalten. Nicht der wichtigste.«
    »Wie viele sind es zur Zeit?«
    »Zwei Dutzend genau. Zumindest beim Morgenappell. Kann sein, dass
sich schon wieder welche dünnegemacht haben.« Er hebt entschuldigend die Hände.
Dicke, hornhautgepanzerte Finger. »Ich bin kein Gefängniswärter, sondern
Schlossermeister. Bei den Phoenix-Werken in Harburg. Bis zum Herbst 1945, dann
bin ich in Rente gegangen.«
    »Nicht gerade der ideale Zeitpunkt für den Ruhestand.«
    Bartsch lacht bitter. »Hätte dieser österreichische Gefreite seinen
Krieg gewonnen, bekäme ich jetzt sicher mehr Geld. Aber ich bin ein alter Sozi.
Bis 1933 in der SPD, seit 1945 wieder drin. Ich hätte es schlimmer haben
können, viel schlimmer.« Er schweigt, schüttelt den Kopf. »Die Engländer haben
mich gefragt, ob ich ›Heim und Werk‹ übernehmen möchte. Ich habe zugesagt, denn
erstens brauche ich Geld, zweitens helfe ich ein paar Jungen, drittens habe ich
selbst keine Kinder, aber immer gerne die Stifte im Betrieb ausgebildet. Das
liegt mir.«
    »Trotzdem rücken viele wieder aus.«
    »Ich kann das verstehen und doch wieder nicht verstehen.«
    Stave blickt sein Gegenüber bloß fragend an.
    »Sie sollten die Bengel sehen, wenn sie hierhergebracht werden, Herr
Oberinspektor«, fährt Bartsch fort. »Abgemagert, Läuse, Krätze, eitrige Wunden.
Total verdreckt. Zerlumpte Kleidung, oft nicht einmal Unterwäsche oder Schuhe.
Und die Sprache, die sie sich angewöhnt haben. Direkt aus dem Wirtshaus oder
noch schlimmeren Orten. Hier werden sie gewaschen und ernährt. Die meisten
bekommen Schwerarbeiterzulage, damit sie wieder zu Kräften kommen. Andere erst
einmal nur Suppe, weil sie so ausgehungert sind, dass sie keine feste Nahrung
mehr vertragen. Wir stecken sie in neue Kleidung – umgefärbte Wehrmachtssachen,
die wir hier selbst zuschneidern. Sind sie wieder einigermaßen auf dem Dampfer,
schicken wir sie zur Arbeit. Bei den Bauern auf die Felder, manchmal. Meistens
in die Wälder, Holz einschlagen. Ehrliche Beschäftigungen, ehrlicher Lohn, gute
Luft, gutes Essen, keine Trümmer – also das ist der Teil der Geschichte, den
ich nicht verstehe: Warum läuft man hiervon wieder weg, wenn man in der Stadt
verlaust und fast verhungert war?«
    »Warum?«
    Bartsch hebt die Hand, als wolle er mit der Faust auf den
Metalltisch schlagen, lässt seine Pranke dann aber erstaunlich sanft wieder
sinken. »Das sind

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