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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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lange er behutsam ist.
    Irgendwann öffnet der Herbergsvater die Tür und verkündet: »Ihr
letzter Kunde.«
    Stave starrt in sein Notizheft. »Das ist erst der sechzehnte Junge.
Sie haben von zwei Dutzend geredet.«
    Bartsch zuckt die Achseln. »Sind wohl getürmt. Im Wald ist niemand
mehr. Es ist Samstag, am Wochenende rücken immer viele Kerle aus.«
    »Weniger Streifen von uns und von den Tommies auf den Straßen.«
    »Ja, die Chance, sich bis nach Hamburg durchzuschlagen, ist ziemlich
groß.«
    »Dann führen Sie den Jungen herein.«
    Arne Thodden, sechzehn Jahre. Der Körper so mager, dass die
Schulterknochen und Schlüsselbeine skelettartig durch die Haut drücken. Altes
Hemd, zerschlissene Arbeitshose und selbstgeschnitzte Holzpantinen an den
Füßen. Ein Gesicht ganz ohne Fett unter den Wangen, tiefliegende, helle Augen,
an den Rändern rötlich entzündet, millimeterkurz geschnittenes Haar. War
wahrscheinlich verlaust, denkt der Oberinspektor. Der Kopf des Jungen sieht aus
wie ein Totenschädel. Der Kripobeamte erzählt ihm, was notwendig ist.
    »Kanntest du Adolf Winkelmann?«
    »Haben Sie eine Zigarette?«
    »Weil dir sonst die Hände zittern?«
    »Ich rauche nicht. Als Bezahlung.«
    »Du tust nichts umsonst?«
    »Ich bin Geschäftsmann.«
    »Du handelst mit Zigaretten?«
    »Zigaretten sind Geld. Besser als die Reichsmarklappen, wenn Sie
mich fragen. Ich mache eigentlich in Kohle.«
    Der Oberinspektor lehnt sich zurück. Macht sich der Kerl über ihn
lustig? Der Magere blickt ihn gleichmütig an, vielleicht ein wenig spöttisch.
Stave blickt auf die Hände seines Gegenübers: auffallend groß für den
schmächtigen Körper, Hornhaut, eingerissene Fingernägel. Zum Teufel damit,
denkt er sich, ich muss endlich aus diesem Brutkasten hinaus. Bringen wir es
hinter uns. Er greift in seine Tasche und zaubert eine John Players hervor.
    Arne Thodden will zugreifen, doch der Oberinspektor zieht rasch die
Hand zurück.
    »Bezahlung erst bei Lieferung«, sagt er.
    »Alles klar«, erwidert der Junge und lächelt dünn. »Den Adolf habe
ich manchmal am Bahndamm gesehen.«
    »Am Bahndamm?«
    »Den Gleisen beim Dammtorbahnhof«, erklärt Arne und seufzt
gelangweilt. »Dort holen wir uns die Kohlen von den Güterzügen.«
    Kohlenklauer, fährt es Stave durch den Kopf. Die Kinder, die aus den
offenen Waggons langsam fahrender Züge säckeweise die begehrte Fracht stehlen
und schwarz verkaufen. Er blickt wieder auf die Hände des Jungen. Kein Wunder,
dass du solche Pranken hast, denkt er.
    »Adolf Winkelmann hat Kohlen mitgehen lassen?«, fragt er laut. Würde
passen, vermutet er. Der Junge konnte ja nicht ständig gestohlene Boxkarten
verschanzen.
    Arne schüttelt jedoch den Kopf. »Meistens nicht. Hin und wieder mal,
aber eher so zum Spaß. Ich kannte ihn nicht gut. Er gehörte nicht«, er sucht
nach dem richtigen Wort, »zu meinen Geschäftspartnern«, vollendet er dann und
grinst. »Der Adolf hatte andere Freunde. Die falschen.«
    »Wen?« Stave hat zum ersten Mal das Gefühl, dass er auf etwas
Wichtiges stößt.
    »Wolfskinder.«
    Wolfskinder – so nennen sich die Mädchen und Jungen aus dem Osten.
Die Waisen, die in den Kämpfen oder bei der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien
ihre Eltern verloren haben. Erschossener Vater, zu Tode vergewaltigte Mutter,
verbrannter Hof. Trecks über Eis und Schnee. Kinder, die wie Wilde aus der
Vorzeit in Wäldern und Mooren überleben, die betteln, stehlen, essen, was ihnen
vor die Hände kommt. Manche kennen nicht einmal ihren Namen. Hausen in
abgebrannten Scheunen und zertrümmerten Häusern. Schlagen sich irgendwann durch
bis in die Westzonen. Ein paar Hundert sollen in Hamburgs Ruinen hausen.
    »Was hat einer wie Adolf Winkelmann mit Wolfskindern zu schaffen?«
    Ein Achselzucken. »Die Wolfskinder bilden Banden. Denen geht man aus
dem Weg, wenn man weiß, was gut für einen ist. Aber irgendwie ist der Adolf da
reingeraten. Vielleicht hat er ja ein Mädchen da, statt einer Witwe.«
    »Eine Witwe?«
    Wieder das gelangweilte Seufzen. »Sie sind doch bei der
Kriminalpolizei, da sehen Sie doch dauernd Witwen. Ich meine, bei den ganzen
Toten.«
    Stave zwingt seinen aufwallenden Ärger nieder. »Wir sind hier nicht
im Deutschunterricht, du musst mir das Wort nicht erklären.«
    Arne hebt entschuldigend die Hände. »Witwen gibt es wie Sand am
Meer. Junge und nicht mehr ganz so junge, hübsche und nicht mehr ganz so
hübsche, spendable und nicht ganz so spendable. Man kann sich das

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