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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Bilder aufhängen? Welche? Die
Kinderzeichnungen, die Familienfotos sind alle verbrannt. Er hat von Margarethe
und Karl je ein Passbild: zerknickte, etwas unscharfe Aufnahmen, auf denen
seine Frau und sein Kind mit dem gleichen erstaunten und misstrauischen Blick
in die Kamera blicken. Er trägt sie in seiner Brieftasche. Sollte es jemals
wieder Filme geben und Entwicklerchemikalien, dann wird er Kopien von beiden
Aufnahmen machen lassen.
    Vielleicht sollte er Anna um ein Bild bitten, das sie aus einer der
Ruinen geborgen hat. Irgendetwas Schönes, eine Landschaft oder ein Seestück.
Aber würde Karl das nicht abhängen, erführe er, von wem es stammt? Stave lässt
den Raum schließlich so, wie er ist, schließt jedoch nicht wieder die Tür. Zum
ersten Mal seit Jahren bleibt das Zimmer offen.
    Der Oberinspektor will noch einige Ermittlungen durchführen. Er hat
die Wohnung schon verlassen, als er im Treppenhaus zögert, dann umkehrt, in
einer Schublade des Küchentisches einen Kalender von 1946 hervorkramt, dort ein
unbeschriebenes Blatt findet und herausreißt. Er kritzelt auf das Papier:
»Lieber Karl, bin dienstlich unterwegs. Warte hier. Vater«
    Nicht gerade große Poesie, aber ihm wollen keine besseren Worte
einfallen. Er heftet den Zettel mit einer Reißzwecke außen an die Wohnungstür.
Dann zögert er erneut: die Nachbarn. So kann das jeder lesen. Würde jeder
wissen, dass der Stave seinen Sohn erwartet. Früher oder später würde er im
Flur scheinbar beiläufige Bemerkungen hören, lauernde Fragen: Na, ist der Herr
Sohn schon zurück? Immer noch nicht? Was er wohl ausgefressen hat, dass ihn der
Iwan so lange behält? Oder ist er Kommunist geworden?
    Der Oberinspektor reißt den Zettel wieder ab und heftet ihn mit der
beschriebenen Seite zur Tür hin an. Dann müsste ein Neugieriger ihn schon
anheben, um den Text zu lesen. Und ob das jemand wagt, an der Tür bei einem
Kripobeamten? Er eilt aus dem Haus, bevor ihn neue Zweifel überwältigen könnten
und er womöglich den Zettel ganz verschwinden lassen würde.
    Eine Dreiviertelstunde später steht Stave am Hauptbahnhof.
Er blickt durch die weite, stählerne Halle, grau verqualmt vom Rauch einiger
Lokomotiven. Die bleierne Luft schmeckt bitter nach brennenden Kohlen. Der
Oberinspektor fühlt sich schmutzig. Grelles Sonnenlicht schneidet wie lange
Messerklingen dort durch den Dunst, wo die Gläser im Dach zerborsten sind.
Kreischen von Bremsen, Pfeifen der Kessel, rumpelnde Eisenräder auf Schienen,
krachende Türen, unverständliche Lautsprecherdurchsagen, Pfiffe der
Stationsvorsteher: Alles hallt, er fühlt sich wie betäubt.
    Stave kommt sich wie ein Jäger vor, der am Rande eines Dschungels
steht und das Dickicht mit Blicken zu durchdringen versucht, bevor er sich
hineinwagt. Er mustert die Bahnsteige. Gleis 4, ein Zug für die Kartoffelleute
rumpelt heran – jene Hamburger, die mit Säcken, Kisten oder Taschen beladen
Richtung Lüneburg fahren, um von dort aus zu Fuß die Bauern des Umlandes zu
erreichen und ihnen alte Familienschätze im Tausch gegen Essbares anzubieten.
Illegal. Die Engländer haben befohlen, die Ernte an die deutschen
Lebensmittelstellen abzugeben, die diese dann auf Karte verteilen. Manchmal
sperren sie für eine Razzia Bahngleise ab und durchsuchen alle Ankommenden.
Trotzdem drängen sich, an Sonntagen noch mehr als unter der Woche, Hunderte die
Holztreppe von der höher gelegenen Galerie, auf der Stave steht, zum Bahnsteig
hinunter, um den Kartoffelzug zu stürmen – Beamte, Hausfrauen, Schüler,
Menschen, die sich nie hätten träumen lassen, einmal das Gesetz zu brechen. An
die alte Dampflok sind Stehwagen gehängt, Waggons, aus denen alle Bänke
herausgerissen worden sind, damit dort mehr Menschen hineinpassen.
    Der Oberinspektor wendet sich ab. Unter den Kartoffelleuten wird er
nicht finden, wen er sucht. Einige Gleise weiter warten zwei Züge links und
rechts eines Bahnsteigs. Er entziffert die Schilder auf den Anzeigetafeln. Der
eine, der bloß aus offenen Güterwagen besteht, soll über Uelzen bis nach
Dortmund fahren. Der andere, hier sind es immerhin Vorkriegswaggons, geht nach
München ab. Die einfache Fahrt kostet 70 Reichsmark. Hier stehen nur wenige
Menschen am Gleis, schon wieder erstaunlich gut gekleidet, rauchend, plaudernd.
Wo haben die das Geld her? Das ist der Bahnsteig, den Stave sucht.
    Denn dort warten die Fernreisenden, die Glücklichen mit Gepäck, mit
Geld, mit Zigaretten. Auf die wiederum haben es die

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