Schieber
Arm gehen er und Anna später durch die Straßen. Noch immer
Schweigen. Der Oberinspektor möchte die lastende Stille durchbrechen. Aber er
hat Angst, über das Stück zu sprechen, denn dann würde er schnell verraten,
dass er gar nicht zugehört hat. Soll er über unverfängliche Dinge plaudern?
Aber welche? Ihm fehlt die Kraft zur harmlosen Konversation.
»Was ist mit dir los?«, fragt Anna.
Er weiß nicht, was er darauf antworten soll. »Die Wahrheit ist immer
das Einfachste«, sagt er Verdächtigen oft im Verhör. Jetzt klingt das wie Hohn.
Er will Karls Rückkehr noch nicht erwähnen, aus Furcht, Anna könnte sich von
ihm zurückziehen. Stave weiß so wenig von ihr, dass er nicht voraussehen kann,
wie sie auf einen Kriegsheimkehrer reagieren würde, der sich zwischen sie beide
drängt. »Ich bin nur etwas müde« ist alles, was ihm einfällt. Das ist immerhin
nicht gelogen.
Sie brauchen eine Stunde, um bis nach Altona zu kommen.
Zuletzt sind sie schneller ausgeschritten, als wollten sie beide rascher vor
der Wohnungstür stehen, damit dieser Weg endlich vorüber ist.
Röperstraße 6, Düsternis, nur erhellt vom Mondlicht, das zwischen
die hohen, einfachen Häuser bis auf das Straßenpflaster flutet. Die schiefe
Holztür, die Klingel mit den zehn Namensschildern aus Pappe, rechts die Kellerfenster
in Höhe des Bürgersteigs, mit Eisenstäben vergittert.
Noch ein paar Stunden zuvor hat sich Stave nach diesem Moment
gesehnt, dem aufregenden Augenblick, da er sich mit seiner Geliebten ins Haus
schleicht. Sie hätten kein Licht gemacht, sich angelächelt wie Verschwörer, im
Dunkeln geküsst, und dann …
Nun küsst ihn Anna auf der Straße, flüchtig, scheu. »Erzähl mir
irgendwann, was du heute mitgemacht hast«, flüstert sie. »Du bist gar nicht
richtig da.«
Stave nickt, halb traurig, halb erleichtert, gleich allein zu sein.
»Du wirst es bald erfahren. Ich muss nur noch«, er sucht nach den richtigen
Worten, »einige Dinge klären. Mach dir keine Sorgen.«
Sie streicht ihm flüchtig über das Gesicht. »Ohne Sorgen wäre das
Leben langweilig.«
Er wartet, bis er sieht, wie hinter ihrem Kellerfenster das Licht
einer 15-Watt-Birne aufglimmt, vielleicht eine Viertelstunde lang. Dann wieder
Dunkelheit.
»Gute Nacht«, flüstert Stave, dreht sich um und macht sich auf den
langen Rückweg durch die Stadt.
Wolfskind
Sonntag, 1. Juni 1947
Stave hat den Schlaf nachgeholt, den er in der Nacht zuvor
versäumte, und bereut es. Er war nach einer todesähnlichen Starre einmal
erwacht, doch statt wie gewohnt aufzustehen, hatte er sich zur Wand gedreht und
war noch einmal eingenickt. Dann hatte ihn der Traum überfallen: Flammen im
brennenden Haus. Schwerer Rauch in der Wohnung, allerdings nicht dort, wo er
mit Margarethe gelebt hat, sondern in seinem neuen Heim. Seine Frau ist im
Traum trotzdem dort. Ihr Körper, der im Feuer seltsamerweise nicht brennt,
schrumpft, bis er sie nicht mehr sieht. Er schreit ihren Namen, bis ihm die
Lunge platzt, und wacht auf, Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich hat er
tatsächlich geschrien. Gut, dass Anna nicht da ist.
Anna. Es war gestern nicht gerade der perfekte Abend gewesen. Ob sie
etwas ahnt? Er wird es wiedergutmachen müssen – und ihr auch die Wahrheit
gestehen. Irgendwann. Immerhin hat er sich noch dazu durchgerungen, sie für
diesen Nachmittag in ein Café einzuladen. Sie werden reden, wer weiß, über was.
Stave springt auf, macht sich rasch fertig, schlingt zwei Scheiben
Brot mit einem Schluck Wasser hinunter. Das Nass tröpfelt nur noch aus den
Leitungen, so niedrig ist der Druck, seit die Hitze Hamburg plagt. Es schimmert
rostrot, schmeckt metallisch und ist lauwarm. Wenn ich doch bloß Kaffee hätte,
denkt er.
Stave schaltet das alte Radio ein, wartet, bis die Röhren leuchten.
Klassische Musik, typischer sanfter Sonntagmorgenklang, bloß nichts Aufregendes
und Neumodisches, Mozart, vermutet der Oberinspektor. Er dreht das Radio gerade
so laut, dass sich die Nachbarn nicht beschweren werden. Anschließend hantiert
er in der Wohnung herum: verschiebt hier einen Stuhl, rückt dort etwas zurecht.
In einem kleinen Raum, den Stave nach dem Einzug als Kinderzimmer eingerichtet,
in dem Karl aber nie geschlafen hatte, bezieht er das Bett mit den einzigen
sauberen Tüchern, die er noch hat. Er legt eine Wolldecke ans Fußende. Zwar ist
es drückend heiß, aber vielleicht ist seinem Sohn kalt, nach endlosen Monaten
in Sibirien?
Er blickt auf die Wände. Kahl. Soll er
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