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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Streuner abgesehen, die
Waisen und Herumtreiber, die Taschendiebe, Schwarzhändler, käuflichen Mädchen.
Der Oberinspektor hat keinen genauen Plan, hofft nur, am Hauptbahnhof das eine
oder andere elternlose Kind aufzutreiben, will sich umhören, ein paar Fragen
stellen, das Foto von Adolf Winkelmann zeigen, das ihm Kienle mitgegeben hat.
    Der Oberinspektor mischt sich am Bahnsteig unter die wartenden Reisenden
und kommt sich deplatziert vor in seinem Sommeranzug von 1938, dessen
ursprünglich weißes Leinen längst vom vielen Waschen einen Stich ins Gelbliche
angenommen hat. Er stellt sich am Rand auf, direkt neben einem Waggon. Halb im
Schatten verborgen, mustert er die Vorübergehenden, fünf Minuten, zehn, aber er
hat ja Zeit.
    Ein Mädchen: mager, rotblonde Haare, zu einem Zopf geflochten, grüne
Augen. Sie trägt einen Rock, weiße Kniestrümpfe, eine Bluse mit Rüschen –
dadurch wirkt sie wie eine Zehnjährige, obwohl Stave sie auf mindestens
vierzehn Jahre schätzt. Und etwas passt nicht zum adretten, mädchenhaften
Äußeren: der knallrote Mund, der Lippenstift viel zu dick aufgetragen, wie ein
Signalfeuer in der Dunkelheit. Eine Bahnhofsnutte.
    Die habe ich doch schon einmal gesehen, denkt der Oberinspektor.
Dann fällt es ihm wieder ein: Im letzten Winter hat sie ihn am Bahnhof
angesprochen, er hatte ihr aus Mitleid zwei Zigaretten überlassen. Berliner
Akzent.
    Stave wandert langsam im Schatten der Waggons weiter, bis er nahe
bei dem Mädchen ist, das scheinbar gelangweilt am Ende des Bahnsteiges steht,
tatsächlich jedoch die Menschen lauernd beobachtet. Sie hat ihn längst bemerkt.
Ihre katzenhaften Augen ruhen eine Sekunde länger auf ihm, als ein zufälliger
Blick andauern würde. Sie schätzt den zerknitterten Anzug ab, zögert, sucht das
Gleis noch einmal nach einem lohnenderen Mann ab, doch niemand beachtet sie.
Also zwingt sie ihren bemalten Mund zu einem Lächeln.
    »Einsam? Der Zug wird noch eine Stunde lang warten, mindestens.«
Eine sehr junge Stimme. Wieder der Berliner Akzent. Seine Erinnerung hat ihn
nicht getäuscht.
    Stave steht jetzt vor ihr. Schüttelt ihr, als grüße er eine
Bekannte, die Hand. Sie blickt ihn irritiert an, weil sie so etwas nicht
gewohnt ist. Doch der Oberinspektor lässt nicht los, greift mit der anderen
Hand in sein Jackett, zieht den Polizeiausweis hervor. Sie versucht ihre Hand
zurückzuziehen, doch er drückt fester zu. Sie hat eine kleine Hand.
    »Denk nicht einmal ans Türmen«, sagt er. »Ich will dir nur ein paar
Fragen stellen. Nicht über dein Geschäft«, setzt er beruhigend hinzu. »Ich bin
nicht von der Sitte.«
    »Sondern ein netter Onkel von der Kirchengemeinde.« Sie versucht
noch immer vergebens, ihre Rechte aus seinem Griff zu winden.
    »Mordkommission.«
    Kein Widerstand mehr. Das Mädchen zittert plötzlich. Stave lässt sie
los, holt ein Taschentuch aus seinem Jackett.
    »Wisch dir den Lippenstift ab.« Der Oberinspektor hat keine Lust,
für einen Freier gehalten zu werden, während er die junge Prostituierte
befragt. Er deutet auf einen Waggon. »Setzen wir uns in ein Abteil. Wenn es
stimmt, was du gesagt hast, dann sind wir dort ungestört.«
    Er lässt sie vorangehen, zerrt die Tür zu einem leeren Abteil auf,
schiebt sie bis zum Fenster, setzt sich selbst auf den Platz an der Tür. So
kann sie nicht mehr davonlaufen. Im Bahnhof hätte sie vielleicht früher oder
später sein Hinken bemerkt und einen Spurt riskiert. Er spürt einen Anflug von
Enttäuschung, dass sie ihn nicht wiedererkannt hat, sich nicht daran erinnert,
ihn schon einmal angesprochen und von ihm etwas geschenkt bekommen zu haben.
    »Wie heißt du?«
    »Inge Schmidt.«
    »Je öfter du mich anlügst, desto länger sitzen wir hier.«
    »Hildegard Hüllmann.«
    »Alter?«
    Ein abschätzender Blick, dann ein Achselzucken. »Hat ja doch keinen
Zweck, Ihnen was vorzumachen. Vierzehn.«
    »Geburtsdatum?«
    »15. März 1933.«
    »Wo?«
    »Sind Sie vom Einwohnermeldeamt?«
    »Wo?«
    »Köslin.«
    »Nie gehört.«
    »Ostpreußen.«
    »Du sprichst mit Berliner Akzent.«
    »Habe ich eingeübt, mit einer Freundin. Das kommt bei den Kerlen
besser an. Früher haben sie mich manchmal ›Polennutte‹ wegen meiner Aussprache
gerufen und nicht bezahlt, hinterher.«
    »Früher?«
    »Ich bin seit einem Jahr in Hamburg.« Sie seufzt. »Was wollen Sie
eigentlich? Überprüfen Sie doch alles bei der Sitte. Die führen mich bestimmt
in ihrer Kartei.«
    Stave zieht das Polizeifoto des toten Adolf

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