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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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habe, wenn der Chef
hier aufkreuzt!«
    Stave sieht auf seine Armbanduhr. Keine Zeit mehr, um noch bis zu
seiner Wohnung zu gehen, sich umzuziehen und anschließend zu den Kammerspielen
zu eilen. Geht er aber direkt hin, kommt er zu früh. Also steigt er die Treppen
hoch zu seinem Büro, um die Ergebnisse der Befragungen im Kinderheim für die
Akte zu tippen. Leere Flure. Niemand im Vorzimmer. Er lässt sich auf einen
Stuhl fallen, blickt dann irritiert auf seinen Schreibtisch.
    Ein Brief vom Roten Kreuz.
    Lange starrt der Oberinspektor auf den Umschlag. Schweizer
Briefmarke. Mit Schreibmaschine seine Adresse: Frank Stave, Ahrensburger Straße
91, Hamburg, Britische Besatzungszone Deutschland. Nummer 91 – seine alte
Adresse. Das ausgebombte Haus. Ein Irrläufer der Post. Stave blickt noch immer
auf den Umschlag, ohne ihn in die Hand zu nehmen. Viele Stempel: Das Schreiben
ging zurück in die Schweiz, wieder nach Hamburg, irgendwann hat jemand mit
Bleistift die Adresse dünn durchgestrichen und, kaum leserlich, die der
Kripo-Zentrale daneben notiert. Wie lange mag der Brief unterwegs gewesen sein?
Der Oberinspektor beugt sich über den Stempel auf der Briefmarke. Fast vier
Wochen.
    Endlich berührt er ihn behutsam mit den Fingern, streicht darüber.
Seine Hände zittern. Dann holt er Luft und reißt den Umschlag auf, zerrt ein
Blatt Papier heraus: »Sehr geehrter Herr Stave, hiermit teilen wir Ihnen mit,
dass …«
    Er schließt die Augen. Kein: »Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen …« Keine Todesnachricht.
    Er rückt näher ans Fenster, wo das letzte Sonnenlicht hereinflutet,
den Brief in den nun wieder ruhigen Händen haltend. Nur wenige Zeilen
Amtsdeutsch. Stave liest sie zweimal, bis er ihren Inhalt begriffen hat: Karl
wird entlassen.
    Plötzlich ist ihm das Büro zu eng. Er springt auf, eilt
durch das Vorzimmer auf den Flur, geht hin und her, achtet nicht mal auf sein
Hinken.
    Karl kommt frei!
    Freude, Verwirrung, Aufregung. Das Glück, bald wieder seinen Sohn zu
sehen. Die Angst, wie er wohl sein wird. Ob er ihn wiedererkennt? Der
Oberinspektor fürchtet sich davor und erhofft es zugleich. Denn sein Sohn hat
ihn, bevor er sich 1945 als Freiwilliger meldete, als »undeutsch« verachtet.
Ein Nazi durch und durch, war ja auch erst siebzehn Jahre alt. Ob er nun so
zynisch und brutal ist wie die Jungen im Heim? So mager und von der Krätze
entstellt?
    So viele Gedanken fluten durch Staves Geist, dass es etliche Minuten
dauert, bis ihm die Bedeutung einer simplen Tatsache bewusst wird: Der Brief
ist beinahe schon vier Wochen alt.
    Er überfliegt die Zeilen noch einmal: »… wird Ihr Sohn in
voraussichtlich etwa einem Monat ein Auffang- und Entlassungslager in der
Sowjetischen Besatzungszone erreichen und von dort in seine Heimat geschickt.«
    Ein Monat! Stave hat eine Vision von Karl, der in diesem Moment vor
seiner Wohnungstür steht. Verschlossen. Ob Karl überhaupt weiß, wo er wohnt?
Nach der Bombennacht, die Margarethe tötete und ihre Wohnung zerstörte, war
Karl zunächst bei einem Kameraden von der HJ untergekommen. Dann hatte er sich
als Freiwilliger gemeldet. Beim Roten Kreuz wusste das offenbar niemand, aber
das hat nichts zu sagen: Sie werden kaum jeden zu entlassenden Kriegsgefangenen
in Sibirien persönlich nach seiner Adresse befragen, sondern sich die Angaben
holen, die in den Unterlagen der Wehrmacht zu finden sind. Und Stave war bis
1945 bei den Behörden noch unter der alten Hausnummer gemeldet, er hatte sich
nie getraut, das zu korrigieren. Teils aus Scheu, weil es ihm irgendwie vorkam,
als würde er damit ein letztes Band zu Margarethe kappen. Teils aus Scham, weil
er nicht wissen wollte, wer vor ihm in seiner neuen Wohnung gelebt hatte.
    Ich muss zurück, sagt er sich. Dann fällt ihm ein: Anna wartet auf
ihn.
    Denk nach! Karl wird in einem Monat entlassen, kommt dann erst in
ein Auffanglager und wird von dort weitergeschickt. Fünf Wochen, mindestens.
Vielleicht auch sechs, sieben, acht Wochen, bis er hier ist. Der Brief ist
nicht ganz vier Wochen alt. Mach dich nicht verrückt, Karl kann noch gar nicht
hier sein. Aber bald …
    Was soll er Anna sagen? Soll er ihr überhaupt schon etwas sagen?
Stave hat Angst, dass sich Anna zurückziehen würde. Ihn plagt zudem ein alter
Aberglaube: Rühme dich nicht deines Glückes! Nicht herumerzählen, dass dein
Sohn kommen wird, wenn er noch gar nicht da ist. Wer weiß, was noch alles
geschehen kann, in den letzten Tagen der Gefangenschaft,

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