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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Winkelmann aus seiner
Jacketttasche. »Hast du den Jungen schon einmal gesehen?«
    Hildegard Hüllmann starrt ihm verächtlich ins Gesicht, blickt dann
desinteressiert auf das Bild – und hält sich plötzlich die Hand vor den Mund.
    Stave springt hoch und reißt das Abteilfenster auf.
    »Schon gut«, keucht sie. »Ich kotze nicht auf die Polster.«
    Der Oberinspektor wartet, bis ihr Atem wieder ruhiger geht.
    »Haben Sie einen Glimmstengel?«, stößt die junge Prostituierte
hervor.
    Stave reicht ihr eine Players, reißt ein Streichholz an. Ihre Hände
zittern so stark, dass sie die Zigarette erst angezündet hat, als die Flamme
schon beinahe Staves Finger versengt.
    »Woher kennst du ihn?«, fragt er, nachdem sie einige tiefe Züge
genommen hat.
    »Ich kenne den Kerl nicht. Bin es bloß nicht gewohnt, dass mir
jemand Totenfratzen vor die Nase hält.«
    Der Kripobeamte blickt sie nachdenklich an. »Wir werden mit diesem
Zug bis München fahren, wenn das so weitergeht.«
    »Ich sage die Wahrheit. Selbst wenn Sie mich verprügeln.«
    »Ich werde dich nicht schlagen.« Stave merkt, dass er dem Mädchen
nicht drohen sollte. Er versucht es auf eine andere Art. »Wenn du bei deiner
Aussage bleibst, kannst du gehen. Aber«, setzt er leise hinzu, »dann werde ich
vielleicht nie herausfinden, wer diesen Jungen umgebracht hat.«
    Die Prostituierte zögert.
    »Ich habe den Adolf schon seit Tagen nicht mehr gesehen«, flüstert
sie schließlich. »Das war nicht seine Art, einfach zu verschwinden, ohne ein
Wort.«
    Der Oberinspektor lehnt sich zurück. Eigentlich hat er Mitleid mit
Hildegard Hüllmann, die plötzlich trotz der Zigarette so aussieht wie die
Zehnjährige, als die sie sich verkleidet hat: zerbrechlich, klein, sogar
unschuldig. Aber er weiß, dass er ihre Verwirrung und Schwäche nutzen muss, um
möglichst viele Informationen aus ihr herauszuholen – Informationen, die sie
ihm sonst vielleicht nie preisgeben würde.
    »Kanntest du ihn schon lange?«
    »Was ist mit ihm geschehen? Sie sind von der Mordkommission. Also
hat ihn jemand kaltgemacht.«
    »Du erzählst mir zuerst deine Geschichte. Dann erzähle ich dir
meine.«
    »Ich habe den Adolf vor ein paar Wochen kennengelernt. Am Bahnhof.«
    »Ein Kunde?«, fragt Stave verwundert.
    »Nein, nein.« Sie blitzt ihn einen Augenblick lang zornig an, blickt
dann auf den schmutzigen Abteilboden zu ihren Füßen. »Ich habe am Bahnsteig auf
den D-Zug aus Ostende gewartet«, fährt sie leise fort. »Auf Freier. Sind oft
Kerle in den Fernzügen. Fremde Stadt, Mutti ist weit weg.« Sie lacht kurz.
»Adolf hat auch auf Kunden gewartet, gewissermaßen. Auch wenn ich das da noch
nicht wusste. Er hat von einem Mann einen Koffer abgeholt und wollte damit
gerade gehen.«
    »Einem Mann? Wie sah der aus?«
    Sie zuckt die Achseln. »Ein Kerl halt.«
    »Groß? Klein? Dick? Dünn? Haarfarbe? Alt? Jung?«
    Sie unterbricht ihn mit einer ungeduldigen Geste der Zigarette. »Ich
sehe mir Männer nicht an, verstehen Sie? Möglichst wenig ansehen, möglichst
schnell vergessen. Das hätte mein Vater sein können und mir wäre das nicht
aufgefallen.«
    »Dein Vater lebt in Hamburg?«
    »Nein.« Wieder das freudlose, harte Lachen. »Der ist längst
gefallen. 1943. Stalingrad. Ich sage das nur so, damit Sie das verstehen.«
    »Also weiter.«
    »Adolf ist mit seinem Koffer regelrecht in mich hineingekracht, so
schwer war der. Wir sind zusammengestoßen. Er ist rot geworden und hat sich
entschuldigt. Ich fand das lustig und irgendwie …«, sie sucht nach den
richtigen Worten, findet sie nicht. »Na, jedenfalls, bei mir hat sich seit
Jahren niemand mehr entschuldigt für irgendetwas. So sind wir ins Gespräch
gekommen. Und am nächsten Tag habe ich ihn wieder am Bahnsteig gesehen und dann
wieder und irgendwann habe ich es kapiert.«
    »Was kapiert?«
    Hildegard Hüllmann blickt ihn ungeduldig an. »Er war ein Schmuggler.
Holte das Zeug aus den Fernzügen und brachte es zu den Schiebern am Hansaplatz.
Und er nahm dort Ladungen mit und brachte sie zu den Zügen, die bis hinter die
Grenzen fahren, vor allem nach Holland und Belgien.«
    »Welches Zeug?«
    Sie zuckt die Achseln. »Er hat selten darüber geredet. Manchmal
schienen die Koffer ziemlich schwer zu sein. Manchmal eher leicht, oder
vielleicht waren sie sogar leer. Selten hat er mal den Koffer aufgemacht, um
mich hineinsehen zu lassen: Zigaretten hatte er dabei, hat auch immer viele
verteilt. Ab und zu irgendwelche Tabletten, ein anderes Mal

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