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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Hause
gebracht.«
    »Wir hatten den Keller voll«, bestätigt ihr Verlobter und klingt
dabei durchaus stolz.
    »Haben Sie sich nie gefragt, wie ein Vierzehnjähriger an Kohlen
kommt? In einem Winter, in dem andere in ihren Wohnungen erfroren sind?«
    »Er wird sie wohl geklaut haben«, antwortet die Tante. »Wie alle
anständigen Jungen. Was blieb uns denn übrig? Ich habe ihn nie danach gefragt,
wollte von seinen Sachen nichts wissen. Aber damit hat er seinen Teil zu den
Wohnkosten beigetragen.«
    »Wir müssen uns alle irgendwie durchschlagen. Der Adolf war klug
genug, das zu erkennen.«
    »Nicht klug genug, um zu erkennen, dass die Schule wichtiger ist. Da
war er ziemlich selten.«
    »Im letzten Winter waren brave Schüler ganz schnell erfrorene
Schüler«, gibt Greta Boesel zurück. »Keine Sentimentalitäten. Neue Zeiten, neue
Sitten, Herr Oberinspektor, das gilt nicht nur für das Telefon. Die halbe Welt
liegt in Trümmern und das wird auch noch eine hübsche Weile so bleiben. Was
soll ein Junge mit Deklinationen und Quadratwurzeln anfangen? Besser, man gewöhnt
sich an die Realität.«
    »Sind Ihnen inzwischen nicht doch ein paar Namen eingefallen von
Freunden Ihres Neffen? In seiner Klasse war er ein Außenseiter. Auf dem
Hansaplatz eher nicht.«
    Achselzucken.
    »Hat er nie selbst jemanden genannt?«
    »Nein«, sagt Walter Kümmel bestimmt. »Nicht dass ich mich erinnern
kann.«
    »Hildegard Hüllmann?«
    »Wer soll das sein?«
    »Eine Freundin von Adolf. Zumindest eine Bekannte.«
    Greta Boesel lacht. »Mit Mädchengeschichten halten Bengel doch
hinter dem Berg. Selbst brave Jungs. Haben Sie keine Kinder?«
    Stave geht darauf nicht ein. »Hat Ihr Neffe vom Hauptbahnhof
erzählt?«
    »Er ist Zug gefahren?«
    »Er hat dort Sachen abgeholt oder hingebracht.«
    Kümmel hebt den Kopf, eher anerkennend als überrascht. »Das würde
manches erklären.«
    »Wussten Sie, dass Adolf auch Karten Ihrer Kämpfe auf dem
Schwarzmarkt verschanzt hat?«
    »Ein Verdacht, mehr nicht. Wie gesagt: Der Junge wusste sich zu
helfen. Aber ich bin auch nicht von gestern und habe ihm diese Quelle
trockengelegt. Danach kam er übrigens auch nicht mehr mit Kohlesäcken nach
Hause. Aber da war der Winter schon vorüber.«
    »Hat er mal einen Streit unter den Kohledieben erwähnt?« Das,
vermutet der Oberinspektor, könnte ja auch erklären, warum der Nachschub
ausblieb.
    »Er kam einmal ziemlich zerzaust nach Hause, ist schon eine Weile
her«, antwortet Kümmel.
    »Zerzaust?«
    »Er hatte ein nettes Veilchen.«
    »Von wem? Warum?«
    »Er hat nichts erzählt, ich habe ihn nicht gefragt. Das machen
Jungen am besten unter sich aus.«
    Stave schließt die Augen und denkt nach: Adolf Winkelmann verdingt
sich als Schmugglerkurier auf dem Hansaplatz, bringt heiße Ware von dort zum
Hauptbahnhof und zurück. Er vertickt manchmal auf eigene Rechnung Karten und
möglicherweise andere Sachen auf dem Schwarzmarkt. Er treibt sich mit Wolfskindern
herum. Er stiehlt zumindest hin und wieder Kohlen, wahrscheinlich von Zügen.
Irgendwo und irgendwann gerät er dabei mit jemandem in Streit. Seine Tante und
deren Verlobter kennen die Einzelheiten nicht, ahnen aber genug, um ein
ungefähres Bild davon zu haben, was der Junge so treibt. Sie tolerieren das,
fördern es vielleicht sogar, schließlich profitieren sie davon. Klingt wie eine
ganz normale Familie in diesen Tagen.
    »Ich halte Sie auf dem Laufenden«, sagt Stave und stemmt sich aus
dem Stuhl.
    Die Neue Rabenstraße wäre idyllisch, läge sie nicht nahe
am Bahnhof Dammtor. So hängt der Kohlenqualm der Dampfloks im Laub der Bäume zu
beiden Seiten, das Kreischen eiserner Räder und das Fauchen der Kessel weht
hinüber. Der Oberinspektor schlendert zur Hausnummer 1: eine Villa, im Krieg
ziemlich ramponiert, Brandspuren an den einst hell verputzten Wänden, geflickte
Löcher, einige vernagelte Fenster. Lärm und Verfall werden die meisten Bewohner
des Hauses nicht stören, denkt Stave – hier sezieren Doktor Czrisini und seine
Kollegen von der Rechtsmedizin die Leichen.
    Er trifft den Pathologen in dessen kleinem, verqualmtem Büro.
Notizzettel und maschinengeschriebene Berichte auf dem mit einer faltigen,
schmutzigen Tischdecke bedeckten Schreibtisch, wandhohe Regale, nach
unentwirrbarem System teils mit Aktenordern, teils mit Gläsern vollgestellt, in
deren Formalininhalt verschrumpelte Organe schwimmen. Die Schlieren auf dem
Fenster sind so dick, dass selbst das grelle Sommerlicht bloß milchig

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