Schieber
vor.«
»Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal.«
Der Rektor nickt, klopft, verschwindet hinter der Tür. Einige
Augenblicke später kommt ein junger Mann heraus, so mager wie seine Schüler,
etwas zu langes, schwarzes Haar, dunkle Augen. Ein verhinderter Künstler, denkt
Stave. Der Rektor bleibt im Klassenraum zurück. Dort ist es totenstill.
»Herr Dr. Kitt berichtete mir von einem unangenehmen Vorkommnis?«
»So kann man das nennen«, erwidert der Oberinspektor und erzählt
schon wieder die Geschichte des erschlagenen Jungen. »Ihr Name?«, fragt er und
zückt seinen Notizblock.
»Johannes Thiele. Ich bin der Klassenlehrer, Deutsch und
Geschichte.«
»Sie kennen Adolf Winkelmann seit der ersten Klasse?«
»Nein. Ich bin erst seit 1945 hier. Eigentlich wollte ich wieder an
die Universität, zu Ende studieren. Aber die Engländer haben mich geholt. Sind
ja viele Stellen frei.«
»Wann haben Sie Adolf Winkelmann das letzte Mal gesehen?«
»Vor vierzehn Tagen. Ende letzter Woche war ich beim Herrn Rektor,
um das lange Fehlen zu melden. Es setzte einen Tadel. Nicht, dass das den
Jungen sonderlich beeindruckt hätte. Ich meine, wenn er jetzt noch leben
würde.« Der Lehrer wird rot, blickt verwirrt aus dem Fenster.
»Er fehlte häufig?«
»Eigentlich immer.«
»Das hat Sie nicht beunruhigt?«
Thiele seufzt und schaut den Oberinspektor nun an, wie er wohl sonst
begriffsstutzige Schüler anblickt. Stave muss sich beherrschen, um höflich zu
bleiben. »Wissen Sie, warum die meisten Bengel in die Schule gehen? Wegen der
Schulspeisung der Engländer. Jeden Tag eine warme Suppe, Sojagrütze und
Fleischextrakt oder Grieß und Zucker. Dreihundert Kalorien, dreihundert gute
Argumente, nicht zu schwänzen. Von meinen fünfzig Jungen interessiert sich
vielleicht die Hälfte für den Stoff. Nicht, dass ich es ihnen dabei auch noch
leichtmachen könnte. Die Engländer haben die meisten Schulbücher aus der
Nazizeit verboten: zu viel Propaganda. Neue Bücher gibt es aber nicht. Was soll
ich tun? Na, ich nutze das alte Deutschbuch und das alte Geschichtsbuch weiter,
unter dem Pult sozusagen. Immer in Angst, dass mich einer der Bengel mal bei
den Tommies verpfeift.«
»Wäre Adolf Winkelmann jemand, der Sie verpfeifen würde?«
»Der hat seine Bücher nie angesehen. Obwohl er eigentlich helle ist.
Ich meine, hätte er gelernt, wie es einige der Jungen tun, die verstanden
haben, dass sie nur mit harter Arbeit aus diesem Schlamassel wieder
herauskommen, dann wäre er ab der 9. Klasse auf die Realschule gegangen oder
vielleicht sogar auf das Gymnasium. Der Adolf war klug, aber nicht ehrgeizig.
Oder genauer: Nicht im schulischen Sinne ehrgeizig.«
»Aber im außerschulischen?«
»Er war gut im Geschäft. Kohle. Im letzten Winter mussten alle
Schüler Kohlen, Holz oder Briketts mitbringen, um unsere Schule ein wenig zu
heizen. Das fiel vielen sehr schwer, es war ja so erbärmlich kalt, auch bei
denen zu Hause. Nur der Adolf kam, selten genug, in die Schule und brachte
zweimal dabei einen ganzen Sack Kohlen mit. Tat ziemlich groß dabei. War auch
nicht ungeschickt. Das hat ihn damals vor einem Tadel bewahrt, denn wer
verweist schon einen Schüler, der so viele Kohlen bringt? Er war schlau.«
»Und wohlhabend, in gewisser Weise? Immerhin scheint er auch auf die
Schulspeisung keinen Wert gelegt zu haben.«
»Ich sagte ja: Dem geht es gut.«
»Bis letzte Woche«, brummt der Oberinspektor.
Einen endlosen Vormittag verbringt Stave mit den Schülern.
Jeder muss einzeln auf dem Flur antreten. Meist ist es nach wenigen Minuten
vorüber. Am Ende weiß der Oberinspektor, dass Adolf Winkelmann in der Klasse
keine Freunde gehabt hat. Ein Außenseiter. Jemand, den die anderen bewunderten
und fürchteten. Bewundert für seine Zigaretten und eine gewisse weltläufige
Art. Gefürchtet wegen seiner nebulösen Verbindungen zur Welt des
Schwarzmarktes, von der alle gehört hatten, ohne Genaueres zu wissen. Keine
Schlägereien in den wenigen Tagen, die er zur Schule ging, keine Drohungen,
keine Mitschüler oder Lehrer, die man als seine Feinde bezeichnen könnte.
Nichts zu seinem Leben außerhalb des Unterrichts.
Als Stave schließlich aus der Volksschule tritt, fühlt er sich, als gehe
er rückwärts aus einer Sackgasse heraus. Keine Freunde, keine neuen Spuren. Nur
dies: Kohlenklauer.
Auf seinem Schreibtisch in der Zentrale liegt eine Notiz: »Mein
Bericht ist fertig. Der Junge starb wahrscheinlich etwa zwölf Stunden, bevor
seine
Weitere Kostenlose Bücher