Schieber
der
Martinistraße, gegenüber dem Eppendorfer Park, wirkt halb wie eine Kaserne,
halb wie ein Schloss. Die Erhabenheit stört nur ein würfelförmiger Betonbunker
aus dem Krieg, der links neben dem Haus aus dem Boden wächst. Er drückt die
Klinke im Portal hinunter, über dem in schweren, vergoldeten Lettern
»Universitäts-Klinikum-Eppendorf« glänzt.
Der Oberinspektor hat einen Termin mit Professor Rudolf Degkwitz.
Eine Schwester führt ihn hin. Er blickt auf ihre geschwungene Haube. Plötzlich
fällt ihm ein, dass Karl Krankenschwestern »Stukas« genannt hat – das letzte
Mal, als er seinen Vater gesehen hatte. Da war er schon bei der Wehrmacht,
absolvierte seine hastige Ausbildung, war kurz davor, zum Endkampf nach Berlin
geschickt zu werden. Er hatte, nachdem er den ganzen Abend geschwiegen hatte,
auf einmal von einem Lazarett erzählt, das die jungen Rekruten besucht hatten.
Warum, darüber verlor er kein Wort, ebenso nicht, was er dort gesehen hatte –
nur dies: harter Spott über die Krankenschwestern, deren geschwungene Hauben
aussähen wie die geknickten Flügel von Sturzkampfbombern. »Du hast doch gar
keine Stuka mehr gesehen«, hatte Stave daraufhin geantwortet. Die waren längst
alle abgeschossen worden. Das hatte er sich verkniffen hinzuzufügen, aber sein
Sohn hatte ihn trotzdem verstanden. Wieder Streit. Ihr letztes
Vater-Sohn-Gespräch.
»Der Herr Professor erwartet Sie.«
Stave schreckt aus seinen Gedanken auf, findet sich vor einem Büro
wieder, nickt der Schwester verwirrt und dankend zu. Sie schenkt ihm das
aufmunternde Lächeln einer Frau, die täglich noch viel größere Verwirrung
erlebt.
Degkwitz, ein mittelgroßer, kräftiger Mann um die fünfzig, das kurze
braune Haar mit scharfem Seitenscheitel geteilt, schüttelt ihm die Hand.
»Zigarette?«
Der Oberinspektor lehnt ab, doch ermuntert er mit einer Geste seinen
Gastgeber, sich selbst eine Lucky Strike anzustecken. »Was wissen Sie über
Wolfskinder?«, fragt er.
»Hätten Sie mir nicht schon am Telefon diesen Begriff ins Ohr
geflüstert, ich hätte ihn noch nie gehört«, erwidert der Mediziner. »Warum
kommen Sie zu mir?«
»Irgendwo müssen diese Kinder behandelt werden. Die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass in der größten Klinik auch die meisten
Fälle landen.«
Degkwitz lehnt sich im Stuhl zurück. »Ich bin Tbc-Spezialist. Seit
zwei Jahren haben sich meine Studienbedingungen dramatisch verbessert. Meine
Behandlungsmöglichkeiten sind allerdings ebenso dramatisch zurückgegangen. Wir
sehen hier Hunderte Fälle von Tuberkulose in jedem Stadium. Kinder sind
selbstverständlich auch darunter, viele Kinder. Die Kollegen behandeln zudem
Kinder mit Hungerödemen, mit schwersten Haut- oder Geschlechtskrankheiten, mit
allen Arten von Verletzungen. Die Babys, die hier geboren werden, sind manchmal
so unterernährt, dass sie aussehen wie kleine Greise. Aber ob es Herumstreuner
sind oder Bengel aus Blankenese, das ist mir herzlich gleichgültig.«
»Aber werden Sie nicht stutzig, wenn ein Kind ohne Eltern, ohne
Verwandte eingeliefert wird?«
»Nicht mehr. Nennen die kleinen Patienten uns keinen Verwandten,
dann informieren wir die Behörde. Meistens kommt dann früher oder später jemand
von einem Heim und nimmt die Kinder zu sich. Manchmal laufen die Knaben und
Mädels auch weg, bevor sie abgeholt werden können.«
Der Kripobeamte hatte gehofft, über das Krankenhaus an einige Freunde
des Mordopfers heranzukommen. Doch Stave wird nun klar, dass Wolfskinder, und
seien sie noch so schwer verletzt, in der Klinik nicht auffallen. Sie werden
behandelt, bis sie wieder auf die Beine kommen, dann verschwinden sie.
Selbstverständlich würde er hier Krankenakten durchstöbern können, die
Verletzungen dokumentieren, wie sie typisch wären für einen Kampf, für Streit,
sogar für Mordversuche. Aber was würde das nützen, wenn er in keinem Fall
entscheiden könnte, ob hierbei ein Wolfskind das Opfer wäre?
»Ich hatte Sie gebeten, zu überprüfen, ob Sie jemals einen Adolf
Winkelmann behandelt haben«, sagt er müde, schon halb resigniert.
Der Professor schüttelt bedauernd den Kopf. »Wir sind alle Akten der
letzten Jahre durchgegangen, auch vor 1945. Die sind ja glücklicherweise noch
vorhanden. Kein Adolf Winkelmann. Was nicht heißt, dass er nie bei uns gewesen
wäre. Die Jungen, die hier ankommen, nennen uns irgendwelche Namen. Wie sollen
wir das überprüfen, ohne Ausweis oder Meldebestätigung? Ist ja auch nicht
unsere
Weitere Kostenlose Bücher