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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Aufgabe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Kinder, nach denen Sie
suchen, genau diejenigen sind, die Phantasienamen angeben. Wir haben hier
Dutzende Peter Müllers und Heinrich Schmidts in den Krankenakten, übrigens auch
ältere Semester. Soll ja auch Erwachsene geben, die ihren echten Namen niemals
mehr erwähnt sehen wollen.«
    Auf dem langen Rückweg von der Klinik zur Kripo-Zentrale
blickt sich Stave immer wieder nach Kindern um. Sie sind überall, das ist ihm
zuvor nie aufgefallen: kurzbehoste Bengel, die hinter einem staubigen Stoffball
herrennen. Mädchen in Röcken, die ihre Mütter aus Decken zusammengenäht haben.
Gören, die mit einem Stecken Reifen vorantreiben. Sie spielen so
selbstverständlich in den Trümmern, als wären das Hügel und Wälder – sogar die
beiden halbwüchsigen Jungen, die der Oberinspektor passiert, während sie aus
Ziegelschutt Ritterburgen auf den angerosteten, in der Sonnenhitze glühenden
Eisengliedern einer abgesprungenen Panzerkette errichten.
    Das ist nicht meine Welt, denkt er, und fühlt plötzlich Trauer wie
ein Joch, das sich auf seinen Nacken legt. Kinder, Spiele, Abenteuer: Wann hat
er das zuletzt mit Karl geteilt? Der Junge war doch den ganzen Tag bei der
Hitlerjugend. Kein Selbstmitleid, ermahnt sich Stave, du bist selbst schuld.
Mit wem hätte Karl denn sonst Abenteuer erleben sollen? Mit seinem Vater? Der
war die ganze Zeit im Kommissariat, schob Dienst und Überstunden gleich dazu,
um politisch nicht unangenehm aufzufallen, um trotz fehlender
Parteimitgliedschaft seine Stelle zu behalten und den Pensionsanspruch und das
bisschen Macht und Würde, das selbst einem kaltgestellten Beamten geblieben
war.
    Ich werde es besser machen, diesmal, wenn Karl nur erst aus Workuta
zurück ist, sagt er sich, richtet sich auf, geht schneller. Und doch bleibt da
irgendwo der nagende Zweifel: Ob er wieder alles vermasselt? Auch bei Anna
macht er es kaum besser, seit Tagen hat er sie nicht richtig gesprochen.
    Und selbst bei seinem Fall kommt er nicht weiter. Er hat Spuren.
Aber sie führen nirgends hin. Kohlenklauer? Schmuggler? Familie? Schule?
Irgendwo dort ist ein Geheimnis verborgen – ein Geheimnis, das den brutalen Tod
auf einer Werft erklären würde. Er muss es nur noch lüften.
    Unter den wuchtigen Pfeilern, die das Vordach der Kripo-Zentrale
tragen, nickt er im Vorübergehen dem bronzenen Elefanten zu, den die Krimsches
»Anton« getauft haben – Relikt einer Zeit, in der das elfgeschossige Hochhaus
noch Zentrale einer Versicherung war. Und einer Zeit, in der man noch Geld und
Sinn für derartigen Zierrat hatte. Im Vorzimmer seines Büros blickt Erna Berg
auf, als er eintritt. Sie wedelt mit einer Zeitung auf vergilbtem, billigen
Papier. »Das wird Sie interessieren«, ruft sie.
    »Hört sich gefährlich an«, antwortet er und nimmt ihr das Blatt aus
der Hand. Die Zeit ,
vier Seiten, eng bedruckt. Das Papier ist immer noch knapp in der Britischen
Zone. Die Sekretärin hat die Zeitung so gefaltet, dass sein Auge auf eine
einspaltige Meldung auf der dritten Seite fällt.
    Ein Artikel über Kohlediebstahl durch Jugendliche.
    Stave wirft Erna Berg einen Blick zu, raschelt mit der Zeitung. »Ich
schulde Ihnen die zwanzig Pfennig für die Ausgabe. Die lese ich im Büro.
Scheint so, als könnten wir bald unsere Plätze tauschen.«
    »Männer denken nach, Frauen denken mit«, erwidert sie gutmütig. »Ich
bin Ihnen den einen oder anderen Gefallen schuldig. Die meisten Ihrer Kollegen
hätten mir in meinem Zustand längst nahegelegt, die Stelle zu kündigen – zumal,
wenn sie wüssten, wer der Vater des Rackers in meinem Bauch ist.«
    »Die Zeiten ändern sich«, gibt Stave zu und schließt die Bürotür
hinter sich. Er liest den Artikel einmal, schnell, dann ein zweites Mal,
gründlicher. Trockene Kost. Eine Schätzung darüber, wie viele Tonnen Kohle
jährlich aus den Waggons auf Hamburger Gleisen gestohlen werden. Wie viele
Kinder daran beteiligt sind. Wo sie die Züge leer räumen, an wen die Beute
geht.
    »Da kennt sich jemand aus«, flüstert der Oberinspektor. Der
Verfasser ist ein alter Bekannter: Ludwig Kleensch, der schon über den
Trümmermörder geschrieben hat. Stave blättert eines seiner älteren Notizbücher
durch, die er, chronologisch geordnet, in einer Schublade seines Schreibtisches
aufbewahrt. Schnell hat er die Redaktionsnummer des Journalisten gefunden.
    Als er seinen Namen in den Hörer spricht, sagt Kleensch einen Moment
lang gar nichts, bis er sich

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