Schieber
Schulzeit nach dem Krieg feierlich
wieder eröffnet, mit Besatzungsoffizieren in Ausgehuniform, wenigen
unbelasteten deutschen Politikern, vielen Kindern. Die Schule wurde deshalb
ausgewählt, weil sie groß ist und modern, in Zeiten der Weimarer Republik
geplant. Und es schadete sicher auch nicht, dass sie eine der wenigen
Lehranstalten ist, die keinen Bombentreffer abbekommen hat. Der Oberinspektor
blickt auf die ineinander geschachtelten, wuchtigen Baukörper aus Backstein,
die militärisch strengen weißgerahmten Fensterreihen, den hohen Treppenturm – ihm,
der in wilhelminischen Schulen mit geschwungenen Aufgängen, imposanten Säulen,
allegorischen Figuren über dem Portal groß geworden ist, erscheint diese
Institution eher wie eine Fabrik. Nüchternheit kann ja nicht schaden, sagt er
sich.
Ihn umströmen Kinder, die zu ihren Klassenräumen eilen: allesamt
Jungen, die Mädchen der Volksschule lernen in separaten Gebäuden einige Meter
die Straße hinunter. Magere Bengel in kurzen Hosen, gebräunte Haut, struppiges
Haar. Der Oberinspektor sieht zwei Fünftklässler, die selbst gestrickte Schuhe
an den Füßen tragen, andere haben Sandalen an, deren Sohlen aus Lastwagenreifen
herausgeschnitten worden sind, etliche kommen barfuß – diejenigen, die bei
schlechtem Wetter die Schule schwänzen, weil es dann zu kalt ist, um ohne
Schutz die Wege zurückzulegen. Er drückt die schwere Klinke am Portal hinunter
und betritt das Gebäude.
Er muss sich durchfragen, bis er schließlich im Zimmer des Rektors
steht.
»Doktor Bruno Kitt«, stellt der sich vor. Ein hagerer
Fünfzigjähriger, runde Brille mit verbogenen Bügeln, Ziegenbärtchen,
Segelohren.
Stave erklärt so nüchtern wie möglich, dass einer der Schüler
ermordet worden ist. Der Rektor zerrt die Brille von seiner Hakennase und
streicht sich mit der Rechten über die Augen.
»Das ist jetzt der dritte Junge, den wir auf so abscheuliche Art
verlieren«, murmelt er. »Ich erkläre den Bengeln tausendmal, dass sie auf dem
Schwarzmarkt nichts verloren haben. Zwei weitere haben mit Blindgängern
gespielt. Der eine liegt noch im Krankenhaus. Der andere ruht in Öjendorf.
Nicht gerade die beste Zeit, um als Kind groß zu werden.«
»Wann ist schon die beste Zeit?«, gibt Stave zurück. »Kannten Sie
Adolf Winkelmann?«
»Der Name sagt mir etwas. Ich glaube, er bekam vor noch gar nicht so
langer Zeit einen Tadel, weil er so oft schwänzte. Aber genau aus diesem Grunde
verbinde ich mit ihm kein Gesicht. War wahrscheinlich nie hier. Ich sehe in den
Klassenlisten nach. Er muss in einer achten Klasse gewesen sein.«
»Wie viele Kinder pro Klasse?«
»Fünfzig, sechzig, wenn alle da sind. Was kaum je der Fall ist.«
Der Oberinspektor unterdrückt einen Fluch. Wird lange dauern, bis er
alle Klassenkameraden befragt hat.
»Da haben wir ihn, in der 8a. Sie haben Glück, bei denen beginnt
heute die Vormittagswoche.«
»Vormittagswoche?«
»So lange die Schulen in der Nachbarschaft noch zerstört sind, haben
wir so viele Schüler, dass wir die Klassenräume doppelt nutzen müssen:
Vormittags hat die eine Klasse im Raum Unterricht, nachmittags die andere. Wir
wechseln jede Woche, damit alle mal mit dem Frühaufstehen dran sind. Die 8a
muss ab heute wieder antreten. Die Knaben werden müde sein. Ich führe Sie hin.«
Der Rektor geht mit ihm über hohe Gänge, bis sie vor einer Tür
stehen, die in einer zwischen grau und beige changierenden Ölfarbe gestrichen
ist. Er denkt an Karl. Dem war alles in der Schule nur so zugeflogen. Er war
auf dem Matthias-Claudius-Gymnasium so gut, dass er von der Tertia gleich in
die Obersekunda gewechselt ist. Ein Jahr übersprungen. Wozu? Um mit Notabitur
an die Front geschickt zu werden und die besten Jahre seiner Jugend im Lager zu
sitzen.
Ich habe noch Glück gehabt, redet sich Stave ein. Hätte schlimmer
kommen können. Gefallen an der Front. Oder wenn er auf der Schule geblieben
wäre, was dann? Karl war ein Nazi durch und durch. Dazu ein toller Schüler. Der
wäre vom Gymnasium direkt auf die Napola gegangen und dann in die SS. Und
heute? Stünde er vor Staatsanwalt Ehrlich und würde hören, wie der für das
Fallbeil plädiert. Er scheucht die düsteren Gedanken fort.
»Ich warte auf dem Flur«, bestimmt Stave. »Muss nicht gleich die
ganze Klasse wissen, was passiert ist. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie
zunächst den Klassenlehrer hinausbitten würden.«
»Ich hoffe, Sie gehen«, Kitt zögert, »nun, diskret
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